Lefort: Menschenrechte und Politik

Mit dem Text „Menschenrechte und Politik“ kehrt unser Lesekreis nun wieder zu einem Beitrag von Claude Lefort zurück. Denjenigen, denen der 1980 im Original mit dem Titel Droits de l’homme et politique in der Zeitschrift Libre erschienene Text nicht vorliegt, sei das Manuskript von Leforts im selben Jahr gehaltenem Vortrag „Politisches Denken im Angesicht der Menschenrechte“ als Lektüre empfohlen.

In dem hier zugrundeliegenden Text stellt Lefort den für sein politisches Denken maßgeblichen Menschenrechtsbegriff vor. Er beginnt mit einer Kritik der Menschenrechtskritik bei Marx (I.) und zeigt dann die drei für ihn grundlegenden Paradoxien der Menschenrechte auf (II.). Bevor er Schlussfolgerungen zieht (III.), untersucht er die Bedeutung der Menschenrechte in der politischen Praxis, was hier jedoch aus Platzgründen nicht weiter behandelt wird. Abschließen möchte ich den Beitrag mit dem Vorschlag, Lefort als Rechtsphänomenologen zu lesen (IV.).

I. Kritik der marxistischen Menschenrechtskritik

Die bei Lefort übliche Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus der Sowjetunion stellt erneut den Ausgangspunkt der Argumentation dar. Aufbauend auf der Annahme, dass die Menschenrechte etwas qualitativ anderes darstellen als politische Interessen (Lefort 1990, 239f) setzt Lefort sich zu Beginn mit der Berufung auf die Menschenrechte durch sowjetische Dissidenten auseinander.

Die Dissidenten begründeten ihre politische Praxis nicht auf einer Doktrin oder einem bestimmten Programm, sondern auf der Erkenntnis, dass die Menschenrechte „an eine allgemeine Gesellschaftskonzeption gebunden sind […] deren Negation der Totalitarismus darstellt“ (ebd., 242). Für Lefort ist es nun essentiell zu zeigen, dass die von Marx in der Schrift „Zur Judenfrage“ präsentierte Menschenrechtskritik den Kern dieser Gesellschaftskonzeption verfehlt. Auf diesem Wege möchte er die Legitimität der Kritik am sowjetischen Regime verdeutlichen.

Lefort geht von einer nicht auflösbaren Verbindung zwischen der Gesellschaftsformation und den Menschenrechten aus. Entgegen einer liberalen Lesart dieser Rechte sind die Menschenrechte daher nicht zuvorderst an das Individuum gebunden. Die Liberalen konnten sich, Lefort zufolge, ebenso wie die Apologeten des sowjetischen Totalitarismus darauf einigen, dass „die Vergewaltigung der Menschenrechte eine Vergewaltigung individueller Rechte darstelle, die als solche keine politische Bedeutung haben“ (ebd., 245). Die für die Theoriebildung Leforts wichtige Differenz zwischen Totalitarismus und Demokratie lässt sich jedoch für Lefort gerade dann bestimmen, wenn Menschenrechte nicht als individuelle Rechte verstanden werden.

Marx wirft er vor, diese Dimension der Menschenrechte nicht erkannt zu haben. Lefort rekonstruiert Marx daher so, dass er dessen Gleichsetzung der Menschenrechte mit den Rechten des egoistischen Mitglieds der bürgerlichen Gesellschaft herausstellt. Diese Lesart weist Lefort nicht vollkommen zurück, er problematisiert „nicht so sehr, was Marx aus den Menschenrechten herausliest […] als vielmehr das, was er in ihnen zu entdecken unfähig ist“ (ebd., 250). Lefort geht von einer „Zweideutigkeit“ (ebd.) der Menschenrechte aus und beschreibt nun die andere, von ihm präferierte Deutung: Menschenrechte sind eine Ontologie der Demokratie (vgl. Militzer 2013). So bindet „jede menschliche Handlung in der öffentlichen Sphäre das Subjekt notwendigerweise an andere Subjekte“ (Lefort 1990, 251). Selbst die Isolierung des Individuums im Totalitarismus stellt daher nichts anderes als eine „Modalität seiner Beziehung zu den anderen“ (ebd.) dar.

Lefort beendet den Abschnitt mit dem Hinweis darauf, dass (Menschen-)Rechte „nicht zur Ordnung des Lebens gehören, sondern symbolischen Charakter haben“ (ebd., 256). Sie sind von den Symbolen der Macht unterscheidbar und können sich als „unauslöschbare Exterritorialität“ (ebd., 259) der Macht gegen die Macht stellen.

II. Drei Paradoxien der Menschenrechte

Seit dem durch die französische Revolution bedingten Verlust der Verankerung des Rechts in der realen Ordnung (vgl. die ersten drei Beiträge des Lesekreises) entzieht sich das Rechtssubjekt dem Recht. Die Grundlage des Rechts ist in der politischen Moderne somit un(ter)bestimmt und dem Diskurs gegenüber offen. Dieser Logik zufolge können die Menschenrechte nur paradoxal begründet werden. Das erste Paradox der Menschenrechte stellt für Lefort daher die in ihnen verwirklichte, unauflösbare Spannung zwischen dem Menschen im Allgemeinen und den konkreten „Existenz-, Handlungs-, und Kommunikationsweisen“ (ebd., 260) dar, die durch die Menschenrechte geschützt werden sollen. Mit dem Verlust des prädefinierten Rechtssubjekts der Menschenrechte findet ihre Deklaration, so das zweite Paradox, immer als ein in sich widersprüchlicher performativer Akt statt. Menschenrechte deklarieren sich selber in dem Sinne, dass sie ihr verhandelbares Subjekt immer neu hervorbringen müssen. Das dritte Paradox stellt für Lefort die kollektive Bedeutung individueller Rechte dar. Durch die Benennung des Individuums wird die „Vorstellung […] einer ihre Teile transzendierenden Totalität“ (ebd., 261) zerstört. Gerade dadurch werden allerdings die Relationen zwischen den Individuen hervorgebracht und erkennbar, sie stehen für die Autonome Gesellschaft, die dem im Lesekreis verhandelten Sammelband den Namen gibt.

Lefort erfasst die Menschenrechte als symbolische Ordnung. Diese Ordnung trägt ob ihrer unbestimmbaren Grundlage zu der Autonomisierung des Rechts gegenüber der Macht bei. Ist die Grundlage des Rechts unbestimmbar, kann diese nur im Recht und durch das Recht bestimmt werden. Lefort formuliert hier eine sehr grobkörnige Variante soziologischer Differenzierungstheorien aus, Gedanken also, die z.B. auch in der Systemtheorie Niklas Luhmanns zu finden sind.

III. „Zäh und unerbittlich“ – Schlussfolgerungen

Die durch die Menschenrechte zu Tage getretene Möglichkeit, eine autonome gesellschaftliche Sphäre einzufordern ohne sich dabei einem politischen Dogma oder einer Ideologie zu verschreiben, kann Lefort aus theoriestrategischen Gründen nur in seiner Lesart moderner Demokratien verankern. Er schließt daher mit dem Verweis auf die Unmöglichkeit einer Gesellschaft, „die spontan mit sich übereinstimmen würde“, sich also letztlich auf „eine einzige Seinsweise“ (beide ebd., 277) reduzieren ließe (vgl. hierzu den Beitrag zu Gauchets Tocqueville-Lektüre). Es bleibt daher die Notwendigkeit bestehen, zur Aufrechterhaltung der Demokratie „zäh und unerbittlich sowohl der Illusion einer Macht zu widerstehen, die tatsächlich mit der Position übereinstimmt, die ihr vorgezeichnet ist […], als auch der Illusion einer Einheit, die sinnlich erfahrbar und wirklich werden […] würde“ (ebd., 277f). Lefort geht es hier erneut um nichts anderes als um die Verankerung der demokratischen Frage in der politischen Moderne. Er ruft dazu auf, „der Versuchung zu widerstehen, die Gegenwart gleichsam gegen die Zukunft auszutauschen“ (ebd., 279).

IV. Leforts Rechtsphänomenologie

Schließen möchte ich mit einer Notiz zur theoriestrategischen Verortung des Textes. Lefort antwortet, so mein Vorschlag, in seinem Text auf Kernfragen der Rechtsphänomenologie. Dies sind zum Beispiel Fragen nach der Funktion des Rechts, dem Rechtsbegriff oder der Form des Rechts (vgl. Loidolt 2010, 2). Leforts Rechtsphänomenologie kann dabei helfen, sein Denken gegen andere radikaldemokratische Theorien des Politischen abzugrenzen. Wenn Lefort zwischen der symbolischen Ordnung der Menschenrechte und dem positiven Recht unterscheidet, trifft er eine Irreduzibilitätsannahme. Er sagt also, dass sich die Menschenrechte, wenn überhaupt, nicht ohne Sinnveränderung in positives Recht übersetzen lassen. Letzteres ist das Feld gesellschaftlicher Kämpfe um Hegemonie, erstere verweisen auf die mögliche Ordnung des Politischen. So sind die Menschenrechte universell nicht in ihrer Begründung und Geltung, sondern in ihrer Angewiesenheit auf die (Re-)Deklarationen dessen, was als ihr Gehalt angenommen wird. Diese Unmöglichkeit, den Gehalt der nur symbolischen Grundlage zu bestimmen drängt das politische Subjekt geradezu zur Partizipation in der Auseinandersetzung um mögliche Redeklarationen und ermöglicht es der Politischen Theorie, das Politische assoziativ zu denken.

Die Menschenrechte lassen, gerade Leforts liberalismuskritischer Analyse zufolge, keine demokratische Form der Exklusion zu. Auf der symbolischen Ebene kann kein Ausschluss wirksam werden, wenngleich politische Einheiten in der politischen Praxis aus handlungspraktischen Gründen begrenzt sind. Anders im positiven Recht. Dies ist ein Feld, dessen Grenzen bereits theorielogisch prädefiniert sind. Gerade der auch auf den Begriff des Politischen verweisenden Denkerin Chantal Mouffe entgeht dieser Unterschied jedoch zum Teil. Nicht zufällig greift sie auf das Denken Carl Schmitts zurück, eines Rechtstheoretikers also, der weder Anhänger eines linken Projekts, noch der Demokratie war und sein kann. Das Potential der Lefort’schen Theorie, speziell des hier diskutierten Texts, liegt in der Bestimmung eines assoziativen Begriffs des Politischen, der argumentativ gegen die Theoriekonstruktion Mouffes ‚in Stellung gebracht’ werden kann.

Literatur

Lefort, Claude (1990): Menschenrechte und Politik. In: Rödel, Ulrich (Hg.): Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie. Frankfurt am Main: Suhrkamp, S. 239-280.

Loidolt, Sophie (2010): Einführung in die Rechtsphänomenologie. Tübingen: Mohr Siebeck.

Militzer, Stefan (2013): Meinungsfreiheit und politischer Widerstand: Claude Leforts Menschenrechtskonzeption als Beitrag zu einer Ontologie der Demokratie. In: Wagner, Andreas (Hg.): Am leeren Ort der Macht, das Staats- und Politikverständnis Claude Leforts. Baden-Baden: Nomos, S. 167-187.

Bildquelle: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/6/6c/Declaration_of_the_Rights_of_Man_and_of_the_Citizen_in_1789.jpg

Lefort: Die Frage der Demokratie

Der aktuelle Lesekreis der AG Politische Theorie zum Werk von Claude Lefort hat bereits einige Diskussionspunkte und Fragen aufgeworfen. Mit ‚Die Frage der Demokratie’ kommen wir nun zu einem weitaus prägnanteren und darüber hinaus oft zitierten Beitrag des französischen Philosophen. Eingangs möchte ich kurz auf den Methodenaspekt eingehen, der von Stefan bereits in der letzten Diskussion eingebracht wurde. Denn das unablässige Argumentieren Leforts gegen bestimmte Konzepte, welche dann als Negativfolien zur Entwicklung der eigenen Argumentation dienen, kann in diesem Fall zur Strukturierung des Textes herangezogen werden. Dabei zeigt sich eine gewisse Nähe zu den Arbeiten von Chantal Mouffe, die sich wiederum bereits in ihrem Hauptwerk auf Lefort bezogen hatte (Laclau/Mouffe 1991: 231f). Leforts – etwas großspurig klingendes – Anliegen einer „Wiederherstellung der politischen Philosophie“ (Lefort 1990b: 281) verfährt demnach in fünf Schritten, die im folgenden nachvollzogen werden. Lefort: Die Frage der Demokratie weiterlesen

Lefort/Gauchet: „Über die Demokratie: Das Politische und die Instituierung des Gesellschaftlichen“

Der zweite Teil des Lesekreises widmet sich dem Text „Über die Demokratie: Das Politische und die Instituierung des Gesellschaftlichen“ von Lefort/Gauchet (der Text gründet auf Vorlesungen Leforts, die von Gauchet bearbeitet wurden).

Einige Elemente und aufgeworfene Fragen aus dem ersten Beitrag können hier wieder aufgegriffen und vielleicht sogar weiter erhellt werden: Zum einen setzt sich der Autor auch in diesem Text wieder mit marxistischen Ansätzen auseinander, weißt diese zur Analyse der Demokratie von sich (89), verwendet jedoch gleichzeitig Grundbegriffe der Denkschule für seine Analyse. Als weiterer zentraler Punkt der letzten Woche findet sich die Illusion gesellschaftlicher Einheit wieder. Außerdem wird stellenweise auch die Abgrenzung von Demokratie und Totalitarismus erwähnt (104, 111), auch wenn sich das demokratische System klar im Fokus befindet.
Des Weiteren treten neue, teilweise nicht Lefort/Gauchet: „Über die Demokratie: Das Politische und die Instituierung des Gesellschaftlichen“ weiterlesen

Lefort: Vorwort zu Eléments d‘une critique de la bureaucratie

Dieser Lesekreis der AG Politische Theorie befasst sich in den nächsten Monaten mit Arbeiten des französischen Philosophen Claude Lefort (1924-2010),[1] die er in den 1960/70er-Jahren zur Demokratie und ihrem Verhältnis zum Totalitarismus in Verbindung mit einer Bürokratiekritik formulierte. Der erste und hieElements dune critique de la bureaucratie_Lefortr behandelte Text ist das Vorwort zu Eléments d‘une critique de la bureaucratie – einer Zusammenstellung von Texten, die 1971 zum ersten Mal erschien und 1979 in einer überarbeiteten Zusammenstellung aktualisiert wurde.

Lefort verdeutlicht zu Beginn des Textes das allgemeine politische Klima – den ‚Druck des ideologischen Terrors‘ und die ‚Denkverbote des Marxismus-Leninismus‘ –, in dem seine Texte entstanden sind und welches ihn schwer belastet hat (vgl. Lefort 1990: 31). Durch Leforts eigene (z. T. auch kritische) Reflexion seines Werdegangs sowie die Begründung der Neuzusammenstellung dieses Bandes bietet der Text einen guten Überblick zur Verortung und Entwicklung seines Werkes, bleibt jedoch in seiner ausgiebig geübten Kritik an diversen Gruppen gerade für Neueinsteiger diffus, die teilweise wie ein weit ausgeholter Rundumschlag wirkt.

Lefort scheint es ein Anliegen zu sein, sein eigenes Verhältnis zu Marx zu verdeutlichen, den er zeitlebens gelesen, zitiert und interpretiert hat; ihm jedoch auch in gewissen Punkten widerspricht – so beispielsweise der Verharrung im starren Klassendenken oder der Vorstellung einer unmittelbar bevorstehenden vollendeten Vergesellschaftung, die am Mythos einer Ungeteiltheit und Homogenität festhält und damit die verheerenden Folgen des Totalitarismus in sich trägt (vgl. Lefort 1990: 34). Lefort erkennt eine bei Marx angelegte Zweideutigkeit und versucht immer wieder, gegen marxistische Strömungen mit Marx zu argumentieren und sich seine Freiheit der eigenen Interpretation zu erkämpfen. Nach mehreren Brüchen mit verschiedenen Institutionen wie der IV. Internationalen oder der Gruppe Socialisme ou Barbarie versteht sich Lefort jedoch nicht mehr als Marxist, auch wenn er weiterhin Marx liest. Er stellt sich vehement gegen alles, was zum Aufbau einer Partei zu tendieren scheint und bezeichnet in diesem Vorwort das Warten auf die Revolution als vergebene Mühe; und den Glauben an eine gute Gesellschaft entweder als naiv, als heuchlerisch oder gar als furchterregend (vgl. Lefort 1990: 32, 36). Die Zerstörung dieser Illusion, das formulieren einer Bürokratiekritik und den Einsatz für eine libertäre Demokratie stellt Lefort daraufhin ins Zentrum seiner Arbeit. Da der Text im Sinne eines Vorwortes viele verschiedene Themen und Debatten aufgreift, möchte ich hier eine mir zentral erscheinende Serie Monarchie – Demokratie – Totalitarismus betrachten, an die weitere Aspekte in der Diskussion angeschlossen werden können.

Zentraler Ansatzpunkt ist dabei der historische Übergang von der Monarchie zur Demokratie durch die Französische Revolution und die daraus resultierende totalitäre Tendenz, die grundlegend in der Demokratie angelegt ist. In der traditionellen Welt ist die allgemeine Ordnung durch die Religion und die Monarchie abgesichert; Macht, Recht und Wissen stellen Fixpunkte dar; und die Menschen sind in Kategorien und Hierarchien eingegliedert. Da die Gesellschaft dem Modell eines Körpers nachgebildet und in einer natürlichen Ordnung verankert ist, bleibt die interne Teilung verborgen. Mit der Französischen Revolution kommt es zu einer völligen Umwälzung der Gesellschaft: Die Aufhebung der Monarchie und die Zerstörung der göttlichen Ordnung lösen die bis anhin geltenden Begründungsmuster der Gesellschaft auf und eröffnen ein Projekt zur objektiven Erkenntnis der gesellschaftlichen Realität sowie der rationalen Beherrschung der Geschichte. Die Teilung der Gesellschaft wurde bisher von der natürlichen Ordnung verdeckt und tritt nun als gesellschaftliche in Erscheinung: Und „so entfaltet sich [auch] die Ungleichheit im Horizont der Gleichheit; die Macht geht aus der Gesellschaft hervor und soll ihr zugleich die Bedingungen ihrer Einheit liefern; das Recht erweist sich als dem wechselhaften Willen der Menschen unterworfen; die Erkenntnis in ihren vielfältigen Ausformungen bleibt selbst in der Tätigkeit des Erkennens immer auf der Suche nach ihren Grundlagen: letztlich eröffnet sich eine unbestimmte Fahrt ins Neue“ (Lefort 1990: 35).

Damit einhergehend entsteht ein Phantasma zur Aufhebung jeder gesellschaftlichen Teilung durch die Vorstellung eines tatsächlich homogenen Raumes mit einem Überblick des Wissens und der Macht sowie eines allmächtigen Staates „als unpersönliche Vormundschaftsinstanz“ (Lefort 1990: 48). Zudem „taucht die Figur des Volkes auf, erst undeutlich, aber bereit, sich zu aktualisieren, so daß diese Gestalt, die stets untergründig den Garanten der Souveränität darstellt, nun die Drohung einer rasenden Behauptung ihrer Identität in sich birgt“ (Lefort 1990: 48). Der Totalitarismus bezeichnet dabei eine politische Mutation des demokratischen Modells, denn erst durch die Demokratie wird die Teilung als gesellschaftliche sichtbar, die der Totalitarismus wiederum aufzulösen verspricht (vgl. Lefort 1990: 47-48).

Lefort macht an diese Ausführungen anschließend zwei Entwicklungstendenzen der Demokratie aus, die beide in ihr angelegt und nicht voneinander zu trennen, geschweige denn aufzulösen sind: zum einen das totalitäre Phantasma einer totalen Beherrschung des gesellschaftlichen Raumes – einhergehend mit allwissender Macht und Wissen –, zum anderen ein Gesellschaftsverständnis, in dem Macht, Recht und Wissen stets ungewiss bleiben, wobei die daran anschließenden gesellschaftlichen Entwicklungsmöglichkeiten mit einem Freiheitsversprechen verbunden sind (vgl. Lefort 1990: 50-51).

Aufgrund dieser Paradoxie rückt Lefort die Untersuchung der Demokratie in den Fokus, um für die darin angelegten Gefahren zu sensibilisieren und insbesondere auf die Illusion des Einheitsversprechens hinzuweisen. Er will die Ideen der Freiheit und der gesellschaftlichen Kreativität im Rahmen einer Demokratietheorie neu denken, ohne die Teilung, den Konflikt und das Unbekannte der Geschichte zu leugnen. Dabei will er eine Rehabilitierung der bürgerlichen Ideologien vermeiden, denn diese versuchen ebenso, den Zusammenhang zwischen Demokratie und gesellschaftlicher Teilung zu verbergen. Denn so fällt die Demokratie zwar mit dem Aufstieg des Bürgertums zusammen; das Bürgertum bekämpfte jedoch die Demokratie zu Beginn noch, bevor es sich mit ihr arrangierte, dabei aber ständig versuchte, sie zu zähmen und ihre Auswirkungen zu entschärfen. Dabei versteht Lefort die Demokratie nicht als eine bestimmten Regierungsform – d. h. als „Komplex geschichtlich determinierter Institutionen, derer sich eine Klasse zugunsten der Herrschaft über die anderen bedient“ (Lefort 1990: 34) – sondern als „jenes Spiel der Möglichkeiten, das in einer noch nicht so fernen Vergangenheit eröffnet wurde“ (Lefort 1990: 52) und jenseits dessen nur das Modell des Totalitarismus zu finden sei. Gleichzeitig weist er ein ‚sich-zufriedenes-Zurücklehnen‘ hinsichtlich der Wohltaten der heutigen Herrschaftsordnung zurück. Es ist und bleibt für ihn eine politische Frage, denn ein Wunsch nach Freiheit, der in der Demokratie angelegt ist, geht für ihn immer mit einem Wunsch nach Gesellschaft einher, die diese Ambivalenzen in sich trägt.

 

Anschließend an diesen historischen Ausgangspunkt von Leforts Betrachtungen ergeben sich für die  weitere Diskussion des Textes verschiedene Themen und Fragen:

  • Die generelle Einordnung Leforts und die Unterteilung seines Schaffens in verschiedene Phasen; sowie sein Verhältnis zu seinen Kritiker*innen und die Diskussion zentraler Argumente, die Lefort diesbezüglich anführt.
  • Die Ausarbeitung zentraler Begriffe, die Lefort in diesem Text anspricht – wenn teilweise auch sehr knapp – wie derjenigen der ‚Verfassung‘, der ‚Leerstelle der Macht‘ oder sein konkretes Verständnis von Demokratie. Auch die ‚Erfahrung der Anderen‘ (Lefort 1990: 51), scheint ein charakteristisches Merkmal der Demokratie zu sein, das hier jedoch noch diffus bleibt.
  • Die Ausarbeitung der Rolle der Bürokratie im Totalitarismus und welche Form der Kritik Lefort daran übt. Und daran anschließend:
  • Sein grundlegendes Misstrauen gegenüber der Stärkung staatlicher Institutionen (Lefort 1990: 45) – unter Berücksichtigung der realpolitischen Konsequenzen, die dies für die Ausgestaltung einer demokratischen Gesellschaft hätte; und was Lefort unter einer libertären Demokratie versteht.
  • Auch die ausschließliche Zuordnung des Totalitarismus zur modernen Welt scheint mir diskussionswürdig. Denn Lefort argumentiert, dass erst durch die Auflösung der natürlichen Ordnung der traditionellen Welt – und die dadurch sichtbar werdende gesellschaftliche Teilung – Totalitarismus möglich wird. Doch gibt es nicht auch Beispiele für Versuche von gesamtgesellschaftlichen Zugriffen von Seiten der Regierenden in der traditionellen Gesellschaft – sei dies durch Volkszählungen, das allgemeine Festlegen von Abgaben oder Frondiensten, den Einzug zum Militärdienst oder etwa die Verbreitung und Durchsetzung von (Staats-)Religionen? Kann dem Totalitarismus eine grundlegend andere Qualität in der Praxis zugeschrieben werden, der ihn von Zugriffen in traditionellen Gesellschaften unterscheidet? Oder liegt der Unterschied lediglich in der Begründung: Kontrolle der Individuen aufgrund ‚natürlicher Hierarchien‘ bzw. aufgrund eines ‚Einheitsversprechens‘?

 

Literatur

Lefort, Claude, 1990: Vorwort zu Eléments d‘une critique de la bureaucratie, in: Ulrich Rödel (Hrsg.): Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 30-53.

 

[1] Und zwei Beiträgen von Marcel Gauchet.

Anstoß zum Claude Lefort Lesekreis

Nachdem er kürzlich schon angekündigt wurde, beginnt der nächste Lesekreis der AG Politische Theorie zu Claude Lefort bereits nächste Woche. Inhaltlich werden wir uns mit einigen Veröffentlichungen Leforts sowie seines Schülers Marcel Gauchet, vor allem aus dem Sammelband „Autonome Gesellschaft und libertäre Demokratie“, 1990 herausgegeben von Ulrich Rödel, beschäftigen. Wir erhoffen uns, damit einen umfangreichen Einblick in das Werk des französisichen Philosophen zu erlangen.

Die Beiträge zu den jeweiligen Texten werden im Zeitraum vom 22. Juni bis zum 8. November 2015 im Drei-Wochen-Rhythmus auf dem Blog der AG Politische Theorie erscheinen. Auf die Veröffentlichung der Beiträge folgt mindestens ein umfangreicher Kommentar, um die Diskussion zu eröffnen. Über die Teilnehmer_innen des Lesekreises hinaus sind alle Interessierten zur Teilnahme an der Diskussion eingeladen!

Eine Übersicht zu den Beiträgen findet ihr nach dem Klick
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