Demokratie stärken !

… durch sozioökonomische Teilhabe und lokale Repräsentation

von Sarah Bauer, Patrick Huttel und Jonas Steidle

1 Demokratie stärken – aber wie?

Der Satz wurde so oft zitiert, dass er Gefahr läuft, seine Bedeutung zu verlieren. Dadurch, dass er zu einem Teil deutscher Geschichte wurde, wirkt er erstarrt und altbacken, dabei bleibt er aktuell, solange Menschen versuchen gemeinsam und auf Augenhöhe ihr gemeinsames Zusammenleben zu organisieren. Seinem Urheber, damals polarisierend wie kaum ein anderer Politiker, wurden durch die Historisierung die Ecken und Kanten abgeschliffen, als Säulenheiliger wurde er und mit ihm seine Botschaft unschädlich gemacht. Was auch immer dafür gesorgt hat, dass nur noch müde gelächelt wird, wenn man ihn in politischen Zusammenhängen zum Besten gibt – bei genauerem Hinsehen hat er nichts von seiner zukunftsweisenden Kraft verloren. Heute wird sein Anliegen in neue Worte gekleidet, doch noch immer eint Progressive und v.a. Sozialdemokrat:innen, dass sie als Triebfeder ihres Handelns einen Wunsch identifizieren können: Sie alle wollen mehr Demokratie wagen!

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Kommentar zu „Yes, He [Putin] Would“ – Hill, Reynolds

Im Interview „‘Yes, He Would‘“ geführt von Maura Reynolds und am 28.2.22 auf Politico erschienen, gibt die renommierte Putin-Expertini Fiona Hill (auch bekannt durch ihre Aussagen im Impeachement-Verfahren gegen Donald Trumpii) eine düstere Einschätzung zur Aktionsbe-reitschaft Vladimir Putins, welche mit einer Mahnung an den Westen abgeschlossen wird, sich zu wappnen (so z.B. auch gegen die Möglichkeit russischer Atomschläge). Der nachfolgende Kommentar beinhaltet keine Zusammenfassung des Artikels, sondern versucht einige Aspekte, kritisch zu hinterfragen und zu kontextualisieren. Das Ansinnen besteht demnach weder darin, Hills Redlichkeit in Frage zu stellen, noch die – ausdrücklich als solche zu benennende und verurteilende – Invasion der Ukraine durch Russland zu legitimieren. Der Kommentar versteht sich also eher als Impulsgeber in geopolitisch lichterloh brennender Lage. Kommentar zu „Yes, He [Putin] Would“ – Hill, Reynolds weiterlesen

Anfänge der Politikwissenschaft – oder die revolutionäre Ausbildung zum kritischen Denken

Das Politische ist eine Grundbedingung des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Wir treffen das Politische alltäglich in den Medien, bei Diskussionen auf der Parkbank, im Parlament, wenn wir öffentliche Infrastrukturen nutzen oder Verträge abschließen. Überall dort wo es verschiedene Standpunkte, Interessen, Begehren und Wissensstände gibt, dort gibt es auch das Politische (vgl. Meyer 2010: 18ff.). Der Mensch – wie Aristoteles schon vor über 2.000 Jahren sagte – ist ein politisches Wesen (zoon politikon). Daher verwundert es kaum, dass sich politische Ideen schon in den ältesten Mythen und im antiken Griechenland finden lassen. Doch die institutionalisierte Form der Politikwissenschaft ist eine sehr junge Disziplin. Erst nach 1945, also nach dem Zweiten Weltkrieg etablierte sich die Politikwissenschaft als eigenständige Universitätsdisziplin, „die nach der Erfahrung mit den totalitären Diktaturen bei allen Studierenden unabhängig von der gewählten Fachrichtung, nicht nur Verständnis für die Funktions- und Erfolgsbedingungen der Demokratie wecken, sondern auch eine Identifikation mit ihren Werten begründen sollte“ (Meyer 2010: 21).

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Über die Herrschaft der technologischen Rationalität. Lesekreis zu Herbert Marcuses ‚Einige gesellschaftliche Folgen der modernen Technologie‘

Man kann sich dem Apparat persönlich nicht entziehen, der die Welt mechanisiert und standardisiert hat. Es ist ein rationaler Apparat, der höchste Zweckmäßigkeit mit höchster Bequemlichkeit verbindet, der zeit- und energiesparend ist, der mit Verschwendung aufräumt, indem er alle Mittel dem Zweck anpaßt, Konsequenzen antizipiert und Berechenbarkeit und Sicherheit gewährleistet.“

– Herbert Marcuse

Wir neigen dazu unsere Gegenwart zu überhöhen. Sind wir nicht mit dem Internet, dem personal computer, Google, Facebook, NSA, Cambridge Analytica, Youtube, der universellen Verbreitung von vernetzten Minicomputern als Smartphones, Sensoren, Algorithmen, selbstfahrenden Autos und Sprachassistenten in den Wohnzimmern in eine völlig neue Epoche der technischen Entwicklung eingetreten? Eine Entwicklung, in der sich der Mensch trotz aller Steward Brand-artigen-ökologischen-Cyberutopien endgültig von der Natur entfremdet hat und zu einem technischen, durch und durch medialen Wesen geworden ist? Das Wesen einer neuen Welt, ein Postmensch, ein Cyborg? Halb Mensch halb Maschine, halb Intellekt, halb Algorithmus? Es mag beizeiten überraschen, dass Google noch keine zwanzig Jahre alt ist, Facebook vierzehn, das erste iPhone zehn, die sogenannte algorithmische Filterblase (aka Timeline) erst sieben. Wir scheinen es bei dieser technischen ‚Revolution‘ mit einer Sache neueren Datums zu tun zu haben.

Die einflussreichsten gegenwärtigen Auseinandersetzungen mit den politischen Implikationen von Technik sehen vor allem ihr Potenzial: Paul Mason und die Postoperaisten sehen mit der Informationstechnik endlich den Postkapitalismus heraufziehen, Nick Srnicek und Alex Williams erwarten stellvertretend für viele die automatisierte Zukunft ohne Arbeit, und auch Pessimisten wie Evgeny Morozov kritisieren die bestehende Technik immer im Namen einer besseren Verwendung der Technik.1 Aber was wäre, wenn es in Wirklichkeit kein Über die Herrschaft der technologischen Rationalität. Lesekreis zu Herbert Marcuses ‚Einige gesellschaftliche Folgen der modernen Technologie‘ weiterlesen

Die Konjunktur der Solidarität

Foto von Beanqueen/Flickr

„Je suis Charlie“, Demonstrationen gegen antisemitische Angriffe auf JüdInnen, Anti-Austeritätsproteste in Europa, der Umgang mit Geflüchteten in der europäischen Migrationskrisen, die Rede von Andrea Nahles auf dem SPD-Sonderparteitag oder Aufrufe zu 1. Mai-Demonstrationen teilen eine Idee: Die öffentliche Anrufung von Solidarität.[i] Solidarität wird gefordert, erklärt oder erwartet. Dies geschieht meist nach bzw. in einer „Krise“.[ii] Bis auf Marktradikale wie Ayn Rand oder Margret Thatcher, die jegliche soziale Beziehung, die über die familiäre Solidarität hinausginge, als unnötig und freiheitseinschränkend ansehen[iii], gibt es wohl kaum Parteien und Organisationen, die explizit Solidarität ablehnen würden. Womit haben wir es also hier zu tun?

Vom Römischen Recht zur Französischen Revolution

Semantisch hat Solidarität wohl ihre Ursprünge im Römischen Recht: Darin findet sich die Formulierung ‚obligatio in solidum‘, in der der einzelne für die Gruppe haftet und vice versa; das juristische Vorbild zum Musketier-Slogan ‚Einer für alle und alle für einen‘. Zudem gibt es starke christliche Bezüge, indem die katholische Glaubensgemeinschaft eine Bruderschaft vor Gott schafft, in der alle gleich sind Die Konjunktur der Solidarität weiterlesen