Kommentar zu „Yes, He [Putin] Would“ – Hill, Reynolds

Im Interview „‘Yes, He Would‘“ geführt von Maura Reynolds und am 28.2.22 auf Politico erschienen, gibt die renommierte Putin-Expertini Fiona Hill (auch bekannt durch ihre Aussagen im Impeachement-Verfahren gegen Donald Trumpii) eine düstere Einschätzung zur Aktionsbe-reitschaft Vladimir Putins, welche mit einer Mahnung an den Westen abgeschlossen wird, sich zu wappnen (so z.B. auch gegen die Möglichkeit russischer Atomschläge). Der nachfolgende Kommentar beinhaltet keine Zusammenfassung des Artikels, sondern versucht einige Aspekte, kritisch zu hinterfragen und zu kontextualisieren. Das Ansinnen besteht demnach weder darin, Hills Redlichkeit in Frage zu stellen, noch die – ausdrücklich als solche zu benennende und verurteilende – Invasion der Ukraine durch Russland zu legitimieren. Der Kommentar versteht sich also eher als Impulsgeber in geopolitisch lichterloh brennender Lage.

Der im Artikel erwähnte „What-about-ism“ von Seiten Russlands, auf vergangene Konflikte zu verweisen, lässt sich mit dem tatsächlichen Dammbruch des NATO-Einsatzes im Kosovo 1999 in Verbindung bringen. Diesen nutzt die russische Seite derzeit, wie auch 2014 (Krim-Anne-xion) als Rechtfertigung für die analoge Handhabung von Militäreinsätzen. Diesem Vorgehen Russlands gehen jedoch auch zwei Dekaden der Ankündigung voraus, da bereits im Kosovo-Krieg die russische Seite das völkerrechtswidrige, wenn auch moralisch diskutable, Eingreifen der NATO im Kampf gegen die serbische Armee und Infrastruktur als eine Selbstermächtigung zu Ungunsten schwächerer Bündnisse und Regionen verstand. In Kürze beläuft sich das Argu-ment auf den Gedankengang, dass wenn die NATO sich nicht an die Notwendigkeit, UN-Man-date vor Militärinterventionen einzuholen, hält, andere Militärbündnisse und insbesondere Russland sich diese Freiheit in Zukunft auch erlauben könne. Anderweitig werde mit zweierlei Maß gemessen. Das erst mühsam gewachsene (vgl. Brock 1999, 326iii), ohnehin brüchige normative Funda-ment zwischenstaatlichen Vertrauens war aus russischer Perspektive so unwiederbringlich er-schüttert, wenn auch nicht zerstört. Dies lässt sich anhand der Legitimation der Krim-Annexion durch Russland mittels einer von Habermas in dem ZEIT-Artikel „Bestialität und Humanität”iv von 1999 dereinst schon so befürchteten Interpretation des Völkerrechts mit Verweis auf das IGH-Urteil zur einseitigen Unabhängigkeitserklärung des Kosovo zeigen (vgl. Putin 2014v). Habermas selbst bezeichnete den völkerrechtlich nach wie vor höchst umstrittenen Kosovo-Einsatz der NATO selbst als eine „Unvermeidlichkeit eines vorübergehenden Paternalismus“ (BH [Bestialität und Humanität, Siglen], 63).

Der Kommentar vertritt an dieser Stelle die These, dass der Einsatz und Habermas‘ Legitimation dessen dem Verrechtlichungsprojekt zur völker-rechtlichen Einhegung des „lauernden Kriegszustands zwischen souveränen Staaten“ bis hin zur kompletten Aufhebung „in einer durchgehend verrechtlichten kosmopolitischen Ordnung“ (BH 52) einen Bärendienst erwiesen hat, weil das Vertrauen in das normative Fundament des Völkerrechts aus russischer Perspektive bereits damals gebrochen wurde. Dieses besagt bei-spielsweise, Regeln für alle Staaten gleich gelten. Selbst Habermas hat jedoch den durch die NATO initiierten Dammbruch seinerzeit in der ZEIT ähnlich klassifiziert. Unabhängig der Les-arten der (Il)Legitimität der NATO-Osterweiterung kam dieser Prozess ab dem Kosovo mit Ankündigung. Der Kosovo war eine andere humanitäre Situation, allerdings kann seitdem nicht mehr einwandfrei argumentiert werden, warum einige Staaten das Recht haben ohne UN-Man-dat pazifizierende Maßnahme einzuleiten und andere nicht. Auch im Kosovo wurden Zivilge-bäude bombardiert – der Vergleich mit der Ukraine sträubt sich inhaltlich, aber strukturell bietet er immer noch eine überstrapazierbare Blaupause für das heutige Kriegsgeschehen (vgl. Putin 2022vi; 2014). Leider ist es somit historisch betrachtet nicht hanebüchen, wenn Putin auch heute noch auf den Kosovo verweist – nur hat ihm damals niemand zugehört, weil die innerhalb des libe-ralen Paradigmas der internationalen Politik Geopolitik angeblich obsolet geworden sei. So habe sich ab der Clinton-Administration der Glaube durchgesetzt, dass das Ende des Kalten Krieges eine postnationale und liberale Ordnung übrig gelassen habe, deren benign hegemon die USA seien, welche somit keineswegs als geostrategischer Feind von Moskau aus betrachtet werden könnten, sondern vielmehr als Mediator der neuen Ordnung (Mearsheimer 2014vii). Wie in einer Partnerschaft und jeglicher Sozialbeziehung, ist aber zum Zusammenleben nicht das Pochen auf die eigene Überlegenheit und Exzeptionalität oberste Maxime, sondern Allgemein-verbindlichkeit und dynamisierte Konsensbildung. Selbstermächtigungen von Bündnissen, wie der NATO im Kosovo – so diskutabel der Einsatz als solcher auch war – untergraben den Glau-ben an das normative Fundament des Völkerrechts, seine Allgemeinverbindlichkeit. Der von Hill adressierte imperiale Diskurs Putins tritt spätestens nach der Rede anläss-lich der „Militäroperation“ in der Ukraine deutlich zu Tage. Wie andere (Mearsheimer 2014) scheint auch der Autor dieser Zeilen in der Vergangenheit, den Einfluss eurasischer Ideologie, bzw. primär Dugins Philosophie in Putins Umfeld und bei ihm selbst aus nachvollziehbaren Gründen unterschätzt zu haben. In ihrer Legitimität diskutable und in der Vergangenheit artikulierte geostrategische Bedenken von russischer Seite werden komplett davon überschattet, dass es nun unklar bleibt, ob die Einflusssphäre wirklich erweitert werden soll (Regionen des Baltikums, Abchasien, Südossetien), anstatt nur verteidigt (Ostukraine).

Folgen aus der Idee eines russischen „Mir“ keine geopolitischen Ambitionen, sondern werden diese zur inter- (bzw. in diesem Fall: inner-)kulturellen Austausch wie Identitätsbildung ge-nutzt, ergibt sich allenfalls aus wild-antinationalistischer Perspektive ein Problem. Ukrainer:in-nen und Russen:innen als Geschwistervölker zu betrachten ist historisch wie linguistisch evi-denter Weise gerechtfertigt. Jedoch ist die bereits seit längerer Zeit erfolgte Verwestlichung des größten Teils der Ukraine erstmal ein Faktum und kein militärisch sanktioniertes, eurasisches Pochen (vgl. Dugin 2012viii) auf diese geteilte Identität, wird diesen Prozess – innerhalb aktu-eller geostrategischer und kultureller Situation – zurückdrehen können. Den Beweis hierfür bil-det der, verständlicherweise, aufflammende ukrainische Nationalismus in Kampf gegen den Aggressor des Geschwistervolks. Kein eurasisches Großraumdenken ändert etwas daran, dass die ukrainische Regierung (ob sie nun eine US-Marionette sei oder nicht) das legitime wie le-gale Recht hat, sich von Russland zu distanzieren und zum Westen aufzuschließen, sowie das (linguistisch-kulturell geformte) gesellschaftliche Imaginäre bzw. kollektive Unbewusste der Ukraine durch westlich-amerikanischen Kulturimperialismus ohnehin nicht mehr rein eurasisch ist. Die Wortwahl an dieser Stelle ist Absicht, da es Dugin ja genau um eine Reinigung vom Entarteten des Westens geht (vgl. Dugin 2019ix). Man möge sich zudem der Rede des russi-schen Patriarchen Kirill erinnern, dem Zu Folge Gay Parades ein Grund für den Einfall in die Ukraine gewesen seien (vgl. Holm 2022x). Was Putin mit der Ukraine vorhabe, weiß Hill informativ einzuschätzen:

„It doesn’t mean that he’s going to annex all of them and make them part of the Russian Federation like they’ve done with Crimea. You can establish dominance by marginalizing regional countries, by making sure that their leaders are completely dependent on Moscow, either by Moscow practically appointing them through rigged elections or ensuring they are tethered to Russian economic and political and security networks. You can see this now across the former Soviet space.“

Aus der Schublade der “What-about-isms” gezogen mag der folgende Kritikpunkt erscheinen: ist die Destabilisierung des Umlandes der USA (von Handelsblockaden gegenüber Kuba und Venezuela, den Putschs südamerikanischer Regierung in der Vergangenheit, am prominentes-ten im Fall von Salvador Allende, bis hin zu dubiosen Verbindungen zu mexikanischen Dro-genkartellen) nicht ebenso eine Form von ebenjenem Imperialismus, den Hill hier als Spezifi-kum russischer Dominanzbestrebungen über ehemalig Sowjetrepubliken zu beschreiben scheint?

Dieser Einwand dient keineswegs dazu die Invasion der Ukraine durch Russland zu legitimie-ren, allerdings sei Imperialismus-Kritik, wenn schon artikuliert, so bitte auch konsequent und
selbstreflektiert. Die obig erwähnte Marginalisierung von Ländern und Regionen durch den jeweiligen Hegemonen oder die nächstgelegene Regionalmacht ist beileibe kein Spezifikum des Imperialismus‘ von Putins Gnaden. Welche aufziehenden Realitäten gilt es also im Fall der Ukraine abzupassen? Höchstwahr-scheinlich wird die russische Regierung Novorossiya (die von Separatisten kontrollierte Ge-biete) eingliedern wollen. Dies mag alleine deshalb bereits umso attraktiver wirken, weil es unrealistisch erscheint, dass auch bei Kriegsende und Abzug russischer Truppen, wirklich alle Sanktionen vom Westen zurückgenommen werden. Nur mit spirituellem Nationalpathos (Holm 2022, Dugin 2019) wird die russische Bevölkerung nicht zu beschwichtigen sein. Gebietsge-winne bzw. die „Befreiung“ oder „Entnazifizierung“ zumindest eines Teils der Ukraine lassen sich womöglich gesichtswahrender verkaufen, auch wenn sie freilich objektiv das entstandene Leid und den Verlust an Leben in keinem Fall aufwiegen. Um Novorossiya herum gilt es, mit UN-Mandat also eine Demilitarized Zone (DMZ) zu errichten, damit die Destabilisierung der Ukraine zu allermindest nicht mit herkömmlichen militärischen Mitteln fortgesetzt werden kann. Fiona Hill schließt mit einer recht hellsichtigen Bemerkung bezüglich des Verhältnisses zwi-schen Russland und dem Westen seit dem Georgienkrieg 2008:

„We’ve been at war, for a very long time. I’ve been saying this for years.” Die Frage nach dem Aggressor im Ukrainekonflikt muss nicht gestellt werden, welche Provo-kationen auch immer von russischer Seite wahrgenommen wurden, rechtfertigen sie keinen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg. Hill scheint jedoch einen weiten Kriegsbegriff zu benut-zen, der nicht ausschließlich direkte militärische Konfrontation bedeutet, sondern insbesondere ideologische Kriegsführung. Gerade in diesem Punkt möchte ich das Kommentar mit einem letzten Impuls schließen, der vielleicht die Wiederaufnahme der Kriegsführung zwischen dem Westen und Russland in ein für die Siegerseite des Kalten Krieges zwielichtiges Licht rückt. Hierzu aus Naomi Kleins aufschlussreichem Buch „The shock doctrine“, genauer dem einschlä-gigen Kapitel zu neoliberalen Marktreformen im Russland der 90er Jahre, ein längeres Zitat:

There is no doubt that some parliamentarians showed antipathy for a peaceful settlement by egging on the crowds, but as even the former U.S. State Department official Leslie Gelb wrote, the parliament was „not dominated by a bunch of right-wing crazies.“It was Yeltsin’s illegal dissolution of parliament and his defiance of the country’s highest court that precipitated the crisis —moves that were bound to be met by desperate measures in a country that had little desire to give up the democracy it had just won.*
A clear signal from Washington or the EU could have forced Yeltsin to engage in serious negotiations with the parliamentarians, but he received only encouragement. Finally, on the morning of October 4, 1993, Yeltsin fulfilled his long-prescribed destiny and became Russia’s very own Pinochet, unleashing a series of violent events with unmistakable echoes of the coup in Chile exactly twenty years earlier. In what was the third traumatic shock inflicted by Yeltsin on the Russian people, he ordered a reluctant army to storm the Russian White House, setting it on fire and leaving charred the very building he had built his reputation defending just two years earlier. Communism may have collapsed without the firing of a single shot, but
Chicago-style capitalism, it turned out, required a great deal of gunfire to defend itself: Yeltsin called in five thousand soldiers, dozens of tanks and armored personnel carriers, helicopters and elite shock troops armed with automatic machine guns—all to defend Russia’s new capitalist economy from the grave threat of democracy.
This is how The Boston Globe reported on Yeltsin’s parliamentary siege: „For 10 hours yesterday, about 30 Russian army tanks and armored personnel carriers encircled the parliament building in downtown Moscow, known as the White House, and pelted it with explosive rounds, while infantry troops sprayed machine-gun fire. At 4:15 p.m., about 300 guards, congressional deputies and staff workers marched single-file out of the building with their hands up.“
By the end of the day, the all-out military assault had taken the lives of approximately five hundred people and wounded almost a thousand, the most violence Moscow had seen since 1917. Peter Reddaway and Dmitri Glinski, who wrote the definitive account of the Yeltsin years (The Tragedy of Russia’s Reforms: Market Bolshevism against Democracy), point out that „during the mopping-up operation in and around the White House, 1,700 persons had been arrested, and 11 weapons seized. Some of the arrested were interned in a sports stadium, recalling the procedures used by Pinochet after the 1973 coup in Chile.“ Many were taken to police stations, where they were severely beaten. Kagarlitsky recalls that while he was being struck on the head, an officer shouted, „You wanted democracy, you sons of bitches? We’ll show you democracy!“ (Klein 2007, 238f.).


i Gaddy, Clifford/Hill, Fiona (2013): Mr. Putin Operative in the Kremlin. Paperback edition. Washington, D.C.: Brookings Institution Press.
ii Cassidy, John (2019): “The Exterordinary Impeachment Testimony of Fiona Hill”. New Yorker. https://www.newyorker.com/news/our-columnists/the-extraordinary-impeachment-testimony-of-fiona-hill [19.3.22]
iii Brock, Lothar (1999): „Normative Integration und kollektive Handlungskompetenz auf
internationaler Ebene“, in: Zeitschrift für Internationale Beziehungen. Dezember 1999, 6.
Jahrg., H. 2. (Dezember 1999), pp. 323-347
iv Jürgen Habermas (1999): „Bestialität und Humanität.”iv Ein Krieg an der Grenze zwischen Recht und Moral“, zuerst abgedruckt in: Die Zeit vom 29.4.1999
v Putin, Vladimir (2014): „Address by President of the Russian Federation“, The Kremlin. http://en.krem-lin.ru/events/president/news/20603
vi Putin, Vladimir (2022): “Address by the President of the Russian Federation”. The Kremlin. 24, February 2022. http://en.kremlin.ru/events/president/news/page/6 [19.3.22]
vii Mearsheimer, John J. (2014): Why the Ukraine Crisis Is the West’s Fault. The Liberal Delusions That Pro-voked Putin. o.O. Foreign 125. Affairs. https://www.foreignaffairs.com/articles/russia-fsu/2014-08-
18/why-ukraine-crisis-west-s-fault [19.3.22]
viii Dugin, Aleksandr Gelʹevič (2012): The fourth political theory. 1. English ed. London: Arktos Media.
ix Dugin, Aleksandr (2019): „Professor Dugin: In 1999, the Serbs woke up the multipolar
world“, Ministry of Defence Republic of Serbia. URL = http://www.mod.gov.rs/eng/14739/profesor-dugin-srbi-su-1999-probudili-mnogopolarnisvet-14739#. [19.3.22]
x Holm, Kerstin (2022): Russlands Patriarch im Krieg. Ein Krieg gegen die Sünde. Frankfurter Allgemeine Zei-tung. https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/russlands-patriarch-ukraine-krieg-als-kampf-gegen-die-suende-17858790.html [19.3.22]