Demokratie stärken !

… durch sozioökonomische Teilhabe und lokale Repräsentation

von Sarah Bauer, Patrick Huttel und Jonas Steidle

1 Demokratie stärken – aber wie?

Der Satz wurde so oft zitiert, dass er Gefahr läuft, seine Bedeutung zu verlieren. Dadurch, dass er zu einem Teil deutscher Geschichte wurde, wirkt er erstarrt und altbacken, dabei bleibt er aktuell, solange Menschen versuchen gemeinsam und auf Augenhöhe ihr gemeinsames Zusammenleben zu organisieren. Seinem Urheber, damals polarisierend wie kaum ein anderer Politiker, wurden durch die Historisierung die Ecken und Kanten abgeschliffen, als Säulenheiliger wurde er und mit ihm seine Botschaft unschädlich gemacht. Was auch immer dafür gesorgt hat, dass nur noch müde gelächelt wird, wenn man ihn in politischen Zusammenhängen zum Besten gibt – bei genauerem Hinsehen hat er nichts von seiner zukunftsweisenden Kraft verloren. Heute wird sein Anliegen in neue Worte gekleidet, doch noch immer eint Progressive und v.a. Sozialdemokrat:innen, dass sie als Triebfeder ihres Handelns einen Wunsch identifizieren können: Sie alle wollen mehr Demokratie wagen!

Unser Aufsatz will diese altehrwürdige Formel mit neuem Leben füllen, indem es Vorschläge für die Stärkung der demokratischen Teilhabe von Bürger:innen in ihrer direkten Umgebung macht: auf kommunaler Ebene oder, genauer gesagt, in den Stadtvierteln. Denn an kaum einer anderen Stelle werden die Unterschiede bezüglich politischer und sozioökonomischer Teilhabe deutlicher als beim Vergleich von zentralen und peripheren Stadtteilen.        

Wenn Nachbar:innen im Viertel zusammen und mit echter Unterstützung der Verwaltung Ziele definieren und erreichen, stärkt dies nicht nur den Zusammenhalt auf persönlicher Ebene, sondern auch das Vertrauen in den demokratischen Prozess. Die so erlebbar werdende Selbstwirksamkeit kann sowohl das Interesse an politischer Beteiligung fördern, als auch das Gefühl, dass man tatsächlich Anteil hat an dem, was als Gemeingut beschrieben wird. Damit dieses Gemeingut für alle lebenswert gestaltet wird, müssen auch alle Perspektiven in den Gestaltungsprozess Eingang finden. Je mehr unterschiedliche Menschen beteiligt sind, umso mehr fühlen sich mit dem Ergebnis wohl. Gleichzeitig ist eine gleichberechtigte Teilhabe an Gemeingütern Voraussetzung für einen lebendigen demokratischen Prozess: Prozess und Ergebnis sind gleichermaßen wichtig und bedingen sich auf lange Sicht gegenseitig.         

Um deutlich zu machen, worauf das Papier hinauswill, wird im nächsten Schritt das identifizierte Problem beschrieben, das die Stoßrichtung vorgibt. Um diese Problembeschreibung nachvollziehen zu können, müssen auch ihre normativen Grundlagen offengelegt werden. Anschließend sollen als inhaltliche Diskussionsgrundlage und Denkanstoß zwei Vorschläge für die Stärkung lebenswerter Stadtviertel dargelegt werden. Im letzten und wichtigsten Schritt wird erörtert, wie man diese Verbesserungen als Ergebnis demokratischer Prozesse erreichen könnte, damit sie den Betroffenen sowohl in ihren konkreten Lebensumständen nützen, als auch von ihnen angenommen werden. Unser Resultat ist ein dringender Appell an politische Verantwortungsträger:innen.

2 Theoretische und normative Grundlagen

Postdemokratie-Diagnosen sind ein alter Hut (vgl. Crouch 2008). Wie jedoch mehr Demokratie trotz Postdemokratie wagen? Unsere theoretische Antwort umspielt vier verwobene Momente: Chantal Mouffes Krisendiagnose, politische Subjektivität bzw. Empowerment, Wirtschaftsdemokratie und Fraser/Honneths sozialdemokratische Trias. Wir beginnen mit Chantal Mouffes aktueller Problembeschreibung westeuropäischer Demokratien: In der Krise ist nach dem „sozialdemokratischen, keynesianischen Wohlfahrtsstaat“ nun everybody’s darling: der Neoliberalismus (Mouffe 2018, 21). Dieser entkernte im Nachhall von Thatcher et al. die demokratischen Industriestaaten Europas um ihren demokratischen Traditionsbestand der Grundwerte bzw. zentralen Ideen Gleichheit und Volkssouveränität (ebd., 23). „Marktkapitalismus“ (Gombert et al. 2018, 81) bzw. „Liberalismus“ (Mouffe 2018, 24) und Demokratie befinden sich in einem grundlegenden Spannungsverhältnis: Eine freie Marktwirtschaft kann die Demokratie begünstigen, sie muss aber nicht (Gombert et al. 2018, 81). Postpolitische Links-Rechts-Schwächen gilt es auf der Frontlinie kontinuierlicher Aushandlungsprozesse zu therapieren, ansonsten verbleibt die westeuropäische Bürgerschaft bar „der demokratischen Werte Gleichheit und Volkssouveränität […] auf ihre liberale Komponente reduziert“ (ebd., 26).    

Innerhalb dieser postpolitischen Situation eröffnet sich das populistische Moment. Das „populistische[] Moment“ bezeichnet fürderhin die Destabilisierung einer herrschenden Ordnung bzw. „Hegemonie unter dem Druck politischer oder sozioökonomischer Umwälzungen durch eine Vervielfachung unerfüllter Forderungen“ (ebd., 20) – in unserem Fall: unerfüllte sozioökonomische Forderungen. Dass Personen ökonomisch unterprivilegierter Milieus sich von der Politik nicht repräsentiert fühlen und ihnen auch objektive Hürden demokratische Partizipation erschweren, ist bereits ein Kontinuum beider Krisendiagnosen. Während sich Mouffe nun feurig einer sozialdemokratischen Auferstehung auf nationaler Ebene widmet, ist es unser Ansinnen im Geiste des Subsidiaritätsprinzips Lösungen auf kommunaler Ebene anzustreben (vgl. Alinsky 1972) – insbesondere da ökonomische Transformationsprozesse auf nationaler Ebene teils durch die Lissaboner Verträge verbaut sind.

Politische Subjekte setzen politische Subjektivität logisch voraus. Politische Subjektivität bzw. Empowerment eignen sich gesellschaftliche Akteure wiederum durch „deren Einfügung in diskursive/affektive Bedeutungspraktiken an, die Worte, Affekte und Handlungen umfassen“ (Mouffe 2018, 87). Ein anderes Wort hierfür wäre unserem Verständnis nach Selbstwirksamkeit oder Mitbestimmung. Wir fangen hier also nicht einfach klein an, sondern sind der Meinung, dass aufgrund der verwobenen sozialphilosophischen Ebenen Ordnung, Praxis und Subjekt (vgl. Saar 2019) sich Subjektivität vor Ort bilden muss, eine demokratische wie autonome Geisteshaltung im praktischen Lebensvollzug erworben werden muss. Demokratie ist grundlegender als eine Regierungsform eine Lebensform und braucht Demokrat:innen.

Unsere hiesige Strategie ist also verschränkt mit und ko-konstitutive Bedingung von nationalen, europäischen und globalen Ansätzen. Unser Fokus wiederum gilt dem Empowerment der Bewohner:innen eines Stadtviertels durch kooperative und direkte Formen demokratischer Entscheidungsprozesse. Wir werfen an dieser Stelle ein wirtschaftsdemokratisches Schlaglicht auf lokale Selbstorganisation durch Genossenschaften: Letztere versprechen in unseren Augen einen maximalen Ertrag an Selbstwirksamkeit und der Herausbildung autonomer politischer Subjektivität bei gleichzeitiger Auslebung dieser Subjektivität in der gestaltenden Demokratisierung der Arbeit und ihrer Organisation (vgl. Bierbaum 2018, 17). Dies schließt die demokratische Gestaltung des regionalen und sektoralen Strukturwandels auf kommunaler Ebene (ebd., 18) ein. Diese kommunalen Strukturwandel können reformistisch eine demokratisierende Kaskade innerhalb westeuropäischer Staaten mit der provisorischen Grenze der europäischen Verträge zeitigen.  

Innerhalb der drei Grundwerte sozialer Demokratie (Freiheit, Gerechtigkeit, Solidarität) verorten wir uns zunächst anhand Fraser/Honneths Gerechtigkeitsbegriff zweidimensional: in Kombination legitimer Ansprüche auf soziale Gleichheit (materiale Schlagseite sozioökonomischer Teilhabe; Kostenfrage der Lebenswelt) mit legitimen Forderungen nach Anerkennung von Unterschieden (interpersonale Schlagseite sozioökonomischer Teilhabe) (vgl. Fraser/Honneth 2003: 17). Hiervon versprechen wir uns ein „programmatisches, politisches Orientierungsschema […], das die Vorzüge der Umverteilungspolitik mit den Vorteilen der Anerkennungspolitik zu vereinigen erlaubt“ (ebd, 17f.).  

Sozioökonomische Teilhabe schließt für uns nicht nur den Aspekt von Gerechtigkeit als gleichen Zugang zu Mittel gesellschaftlicher Teilhabe ein, sondern Selbstwirksamkeit und verweist auf Solidarität und Freiheit. Unser Begriff sozialdemokratischer Freiheit ist insoweit ein sozialer, relational gedachter (vgl. Honneth 2011: 232), den wir vertreten, weil wir im Wechselspiel der drei Grundwerte keine andere Möglichkeit der Gewährung positiver Freiheitsrechte als durch Teilhabe der Bürger*innen am gesellschaftlichen Leben durch Umverteilungspolitik sehen (vgl. Gombert et al. 2018, 26f.). Insofern verstehen wir mit Fraser unter Gerechtigkeit: „partizipatorische Parität“. Diese umfasst eine objektive und eine intersubjektive Bedingung: Die erste gilt der Gewährleistung des Stimmrechts der Partizipierenden durch Verteilung materieller Ressourcen, d. h. soziökonomische Teilhabe muss kulturelle zwangsläufige miteinschließen; die zweite Bedingung verlangt, „dass institutionalisierte kulturelle Wertmuster allen Partizipierenden den gleichen Respekt erweisen und die Chancengleichheit bei Erwerb gesellschaftlicher Achtung gewährleisten“ (Fraser/Honneth 2003, 54f.). Bündeln lässt sich die intersubjektive Bedingung in unserem Verständnis von Solidarität als pluralistisch-intersubjektiver Anerkennung, welche Er­mög­lichungsbedingung, Prozess und Ziel der demokratischen Selbst­wirk­sam­keits­er­fahr­ung­en darstellt. Aber wie soll demokratische Selbstwirksamkeit kommunal realisiert werden? Unsere Antwort: In der Lebenswelt der Bürger:innen muss ein Wandel erlebbar werden, der das Selbstbewusstsein stärkt und zum Mitgestalten einlädt.

3 Vorschläge für einen lebenswerten Stadtteil

Dass es in Deutschlands urbanen Räumen ein Ungleichheitsproblem gibt, ist keine neue Erkenntnis. Segregation und Fragmentierung ergaben sich historisch aus der sozialen Entwicklung der Städte und werden, einmal gefestigt, oft verstetigt oder sogar verstärkt. Dies führt zu Einschränkungen der Lebensqualität in den sozioökonomisch schlechter gestellten Stadtteilen. Schlechtere Bildungschancen, schlechtere Gesundheitsversorgung, schlechtere Wohnverhältnisse – das sind die bekannten Folgen des zwischen einzelnen Vierteln ungleich verteilten Wohlstandes. In den letzten Jahren und Jahrzehnten rückte auch die stärkere Umweltbelastung in ärmeren Stadtteilen mehr und mehr in den Fokus (vgl. Kemper 2018).

Die sich ab den 1990er Jahren verschlechternden Zustände in deutschen (Groß-)Städten wurden vonseiten der Politik zur Kenntnis genommen und so entstand 1999 das von Bund und Ländern getragene Städtebauförderungsprogramm “Soziale Stadt” (vgl. BMI 2018), dessen Maßnahmen seither in etlichen Städten und mit einigem Erfolg zum Zuge kommen (vgl. BBSR 2017). Gleichzeitig ist es das Eingeständnis, dass die Kommunen nicht allein leisten können, was für die Bewältigung der sozialen Problemstellungen im städtischen Raum nötig wäre. Außerdem bestehen auch Kritikpunkte am Programm. Die Maßnahmen werden als zu stark reaktiv und als oft nicht ausreichend nachhaltig beschrieben (vgl. Bormann et al. 2017). Außerdem können sie natürlich nicht alles leisten, was zur Entwicklung lebenswerter Stadtviertel für alle nötig ist. So konzentriert sich die Förderung v.a. auf bauliche Maßnahmen und begleitende Instrumente wie integrierte Entwicklungskonzepte (IEK), Quartiers­management sowie Verfügungsfonds (Projektgelder zur Verfügung der Bewohner:innen). Dadurch wird einerseits wichtige Infrastruktur geschaffen bzw. ausgebaut, andererseits setzen v.a. die IEK nachbarschaftliches Engagement voraus.      

Da unser Ansatz allerdings gerade davon ausgeht, dass dieses Engagement aufgrund der Entfernung sozioökonomisch benachteiligter Menschen von jeglicher Art demokratischer Beteiligung erst ermöglicht und gefördert werden muss, wollen wir auch Vorschläge für Verbesserungen in den Stadtvierteln machen, die genau dazu beitragen sollen. Dabei gehen wir –ähnlich wie das Programm “Soziale Stadt” – davon aus, dass ein Hauptaspekt bei der Bekämpfung von sozioökonomischer Ungleichheit die Schaffung von Infrastruktur ist, die für alle zugänglich ist und die niemanden aufgrund seiner oder ihrer stärkeren Finanzkraft bevorzugt.

Hier gibt es eine Vielzahl von Visionen für lebenswerte Städte, von Konzepten für bezahlbaren Wohnraum mit ausreichenden Naherholungsmöglichkeiten über gut ausgebauten ÖPNV bis zu hochwertiger und für alle verfügbarer Gesundheitsversorgung. Um konkret zu werden, stellen wir zwei Vorschläge zur Diskussion, die zur Lösung des von uns identifizierten Kernproblems beitragen sollen: der mangelnden Teilhabe sozioökonomisch benachteiligter Menschen an unserem demokratischen Gemeinwesen.       

Die erste Überlegung dazu: Sollen Menschen sich innerhalb eines demokratischen Staatswesens einbringen, müssen sie ein positives Verhältnis zu diesem Staat haben, im besten Falle Gestaltungsmöglichkeiten sehen. Zu oft tritt “der Staat” gegenüber Menschen mit niedrigem sozioökonomischem Kapital allerdings als anonyme Institution auf, die fordert, Druck macht und der die konkrete Lebenssituation der Bürger:innen weniger wichtig ist als die Tatsache, dass sie eine Steueridentifikationsnummer zugewiesen bekommen. Wir plädieren deshalb für eine massive Ausweitung der “aufsuchenden Kommune” und berufen uns dabei auf die Vertrauensstudie der FES, der zufolge sich dieses Konzept stark mit den Vorstellungen der Bürger:innen davon deckt, was eine kommunale Verwaltung leisten sollte (vgl. vom Hofe 2019). Die “aufsuchende Kommune” engagiert sich ohne Anträge und Co. für ihre Bürger:innen, das bekannteste Beispiel ist der Babybesuchsdienst, bei dem Mitarbeiter:innen der Verwaltung nach der Geburt eines Kindes die Eltern aufsuchen und ihnen bei allen Fragestellungen rund um dieses Großereignis zur Seite stehen. Ähnliche Angebote können auch auf Neuzugezogene oder von Einsamkeit bedrohte Senior:innen angewandt werden und haben damit das Potential des Konzepts mit Sicherheit noch nicht voll ausgeschöpft. Für das benötigte zusätzliche Personal sowie dessen Schulung sollten die Kommunen, die sich dies nicht aus eigener Tasche leisten können, unkompliziert finanzielle Unterstützung von Bund und Ländern beantragen können.          

Die zweite Überlegung ist ebenso simpel und beruht auf dem Beispiel der Stadt Herne im Ruhrgebiet, die wie viele andere Kommunen in dieser Region vom sog. Strukturwandel (Niedergang der Kohle- und Stahlindustrie und dessen Folgen) ab den 1980er Jahren betroffen war und ist. Hohe bis sehr hohe Arbeitslosenquoten, überdurchschnittliche Armut und geringer finanzieller Spielraum für die Städte und Gemeinden aufgrund öffentlicher Verschuldung sind dort gängige Probleme. In Herne hat sich deshalb das “Bündnis für Arbeit und Ausbildung” zusammengefunden, um die Gestaltung des Strukturwandels in die Hand zu nehmen. In ihm arbeitet die Stadt mit der “Bundesagentur für Arbeit, dem Jobcenter, der IHK, der Kreishandwerkerschaft, der Wirtschaftsförderung, den Arbeitgeberverbänden, den Wohlfahrtsverbänden, Gewerkschaften sowie weiteren Trägern, Institutionen und Vereinen” (Stadt Herne 2021) zusammen, um (Langzeit-)Arbeitslosigkeit zu bekämpfen. Dabei erzielt das Bündnis sichtbare Erfolge: Vor Beginn der Corona-Pandemie gelang es, die Arbeitslosenquote in Herne unter 10 Prozent zu drücken (vgl. ebd.). Durch die enge Zusammenarbeit der vielen beteiligten Stellen können die Bürger:innen, die man unterstützen will (z.B. Langzeitarbeitslose, Schulabgänger, …) ganz konkret mit ihren Fähigkeiten und Bedürfnissen in den Blick genommen werden. So kann man ihnen als Menschen gerecht werden und ihnen nachhaltig dabei helfen sich eine (sozioökonomische) Situation zu schaffen, aus der heraus sie ihr Leben freier und selbständiger gestalten können.    

Vorschläge wie die hier skizzierten sind wichtig, um einen Möglichkeitsraum zu öffnen und eine Diskussionsgrundlage zu schaffen. Doch es wäre wohl im Sinne der von uns gewünschten Aktivierung der Bürger:innen am besten, wenn sie in (basis-)demokratische Prozesse eingespeist würden, um in diesen gemeinsam verhandelt, verändert, verbessert zu werden. So haben sie die größte Wahrscheinlichkeit, am Ende tatsächlich die Bedürfnisse der Bewohner:innen zu bedienen. Lassen sich also Verbesserungen für sozioökonomisch Benachteiligte durch ein höheres Maß an Beteiligungsinstrumenten realisieren und damit gleichzeitig das Gefühl demokratischer Selbstwirksamkeit stärken? Kann es funktionieren, die Bürger:innen über die aktive Gestaltung der eigenen Lebenswelt auch für politische Beteiligung auf anderen Ebenen wiederzugewinnen?   

4 Förderung kommunaler Beteiligungsstrukturen

Als Lösungsansatz für die fehlende Beteiligung bei Wahlen oder in etablierten Institutionen wie Parteien kann die lokale politische Beteiligung im Stadtviertel fungieren. Wenn Personen nicht wählen gehen, liegt das häufig in dem Eindruck begründet, sowieso keinen Einfluss auf politische Entscheidungen nehmen zu können (vgl. Schäfer 2015). Deshalb geht es darum, dass die Menschen lernen, sich selbst als politisch wirksame Subjekte zu begreifen und ihrer Stimme Ausdruck zu verleihen. Der lokale Rahmen des Stadtviertels kann einen niedrigschwelligen Einstieg für das eigene politische Handeln bieten.      

Es stehen zahlreiche Konzeptionen für kommunale Beteiligungsformen (s. Planungszelle, Zukunftswerkstatt) zur Verfügung. Doch die Entscheidung für ein spezifisches Konzept ist an dieser Stelle zweitrangig. Viele der entworfenen Instrumente haben grundsätzlich das Potential, in unterschiedlichen Verfahren einen demokratischen Diskussions- und Entscheidungsprozess zu generieren. Ausschlaggebend ist nicht die Wahl einer konkreten Konzeption, sondern die Auswahl anhand spezifischer Kriterien (vgl. Geißel 2015): politische Repräsentation aller Gruppen, niedrigschwelliger Zugang und kein ökonomischer Nachteil aus der Teilnahme sowie feststehendes Budget für das Projekt. Der Prozess muss zusätzlich nach den Parametern der demokratischen Entscheidungsfindung konzipiert und entsprechend moderiert werden. 

Nun muten diese Konzepte in der Theorie als vielversprechende Instrumente für die demokratische Beteiligung von Bürger:innen an. Doch die Empirie setzt diesen Erwartungen ernüchternde Grenzen: Die Instrumente bauen den Graben zwischen politisch aktiven und politikfernen Personen in der Regel nicht ab, sondern zementieren ihn im Gegenteil (vgl. Schäfer/Schoen 2013). Trotz Anreizen besitzen sozioökonomisch weniger Privilegierte keine ausreichenden Ressourcen, um sich zu beteiligen und haben eine Distanz zum politischen System und seinen Institutionen aufgebaut (vgl. Güllner 2013). Das mag nicht verwundern, werden ihre Belange doch in der Tat weniger stark repräsentiert als die des privilegierten Teils der Bevölkerung (vgl. Schäfer/Zürn 2021). Es muss also zuerst das Problem der fehlenden Repräsentation im etablierten Politikprozess gelöst werden, weshalb kommunale Beteiligungsinstrumente mittelfristig kein Ansatz sein können, um die fehlende Beteiligung von ökonomisch schlechter Gestellten im demokratischen Prozess zu fördern. Neuartige Partizipationsprojekte mögen in einzelnen Kommunen funktionieren, bezüglich der hier gewählten Fokusgruppe können sie ihr Versprechen jedoch kaum einlösen.  

Politik muss in diesem Sinne erst wieder an die Menschen herangetragen werden: Es muss ihnen bewusst gemacht werden, dass (und wie) politische Entscheidungen sie betreffen. Etablierte politische Verfahren müssen so ausgerichtet werden, dass sie wieder potenziell alle Menschen erreichen und im Anschluss auch vertreten. Dafür muss die Politik in Vorleistung gehen und die Rahmenbedingungen und die Infrastruktur (im Stadtviertel) schaffen, die das politische Engagement befördern. Diese Maßnahmen können jedoch nur ein Zwischenschritt auf dem Weg zur aktiven Beteiligung der Menschen sein, denn als Ziel gilt immer noch die Stärkung oder Bildung der politischen Subjektivität der Bürger:innen.   

Wie kann nun in einem ersten Schritt die repräsentative Politik im lokalen Kontext verbessert werden? Hierfür mag es zahllose Wege geben. An dieser Stelle sollen zwei Institutionen hervorgehoben werden, die auch für das Engagement im Viertel am sinnvollsten erscheinen: Parteien und Vereine.     

Die Parteien müssen wieder verstärkt Kontakt zu Menschen in der Peripherie der Städte herstellen. Das heißt nicht nur dort verstärkt Wahlkampf zu machen (vgl. Schäfer/Roßteutscher 2016), sondern auch Parteibüros zu eröffnen und den Kontakt mit Bürger:innen zu suchen. Das meint nachhaltiges direktes Engagement im Viertel sowohl von Kommunalpolitiker:innen, als auch von Abgeordneten des Bundes und des Landes.            

Vereine stellen einen zweiten Ankerpunkt dar. Menschen sind in den unterschiedlichsten Zusammenschlüssen organisiert, sei es in Sport, Kultur oder Religion. Man muss die Menschen also nicht auffordern sich zu engagieren, sondern sie in ihrem vorhandenen Engagement unterstützen. Es muss sich ein Netzwerk zwischen Politik und zivilgesellschaftlichen Akteur:innen im Viertel aufbauen. Wünschenswert wäre daher unserer Meinung nach ein zentral gelegenes Büro- und Veranstaltungsgebäude für die zivilgesellschaftlichen Akteure im Viertel. Parteien, Gewerkschaften, Vereine und Verbände würden durch die Zentralisierung erstens an Sichtbarkeit gewinnen, böten zweitens einen niedrigschwelligen Zugang zu diesen Institutionen und könnten drittens einen Ort schaffen, an dem Diskussions- und Beteiligungsformate, getragen von allen relevanten Akteuren, veranstaltet werden können. Allein schon dadurch, dass man unmittelbare räumliche Begegnungsmöglichkeiten schaffen würde, könnte die Vernetzung unterschiedlicher zivilgesellschaftlicher Multiplikator:innen, die Zugriff auf unterschiedliche soziale Milieus haben, gefördert werden.          

5 Ein Appell

Die Menschen sollen zunächst wieder an etablierten Verfahren teilnehmen: ohne Wahlzettel keine Zukunftswerkstatt. Erst wenn politische Vertreter:innen es wieder schaffen, das Vertrauen in demokratische Prozesse herzustellen und einen heißen Draht zu den Bürger:innen zu knüpfen, kann darauf aufbauend selbstbestimmtes politisches Handeln entstehen. Auch das ist ohne Frage ein mühsamer und langwieriger Prozess, aber wer (sozial)demokratische Prinzipien ernst nimmt, muss jeden Versuch unternehmen jene Menschen, die sich von der Politik entfernt haben, wiederzugewinnen.    

Erst wenn zumindest ein Teil jener weniger privilegierten Gruppen sich wieder repräsentiert fühlt und auch tatsächlich in sozial- und arbeitspolitischen Maßnahmen repräsentiert ist, können Instrumente installiert werden, die politische Subjektivität abseits von politischer Repräsentation erproben. Erst dann kann daran gearbeitet werden nachhaltig, lokal verankerte Entscheidungsstrukturen zu implementieren und lokale Solidarität im Stadtviertel zu fördern. Politiker:innen, die mehr Demokratie wagen wollen, müssen mit entschlossenem Beispiel vor Ort vorangehen.       

6 Literaturangaben

Alinsky, Saul David 1972. Rules for radicals. A practical primer for realistic radicals. New York: Vintage Books (A Vintage book, 736).                           

Bierbaum, Heinz 2018. Wirtschaftsdemokratie – von der Mitbestimmung zur sozialistischen Transformation, in: Demirović, Alex (Hg.) 2018. Wirtschaftsdemokratie neu denken. Verlag Westfälisches   Dampfboot; Tagung „Wirtschaftsdemokratie neu denken“. 1. Auflage. Münster: Westfälisches Dampfboot.

Bormann, René,  Antje Christmann und Michael Groß. 2017. Das Programm Soziale Stadt weiterentwickeln. An aktuelle Herausforderungen anpassen und präventiv gestalten. http://library.fes.de/pdf-files/wiso/13483.pdf.

Bundesinstitut für Bau-, Stadt- und Raumforschung (BBSR). 2017. Zwischenevaluierung des Städtebauförderungsprogramms Soziale Stadt. https://www.bbsr.bund.de/BBSR/DE/veroeffentlichungen/sonderveroeffentlichungen/2017/zwischenevaluierung-soziale-stadt-dl.pdf;jsessionid=363B6C3957C138DFE8978BBC8D074F03.live11312?__blob=publicationFile&v=1.

Bundesministerium des Innern, für Bau und Heimat (BMI). 2018. Programmstrategie Soziale Stadt. https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/publikationen/themen/bauen/wohnen/programmstrategie-soziale-stadt.pdf?__blob=publicationFile&v=2.

Crouch, Colin 2008. Postdemokratie. Bonn: Bpb (Schriftenreihe / Bundeszentrale für Politische Bildung, Bd. 745).

Fraser, Nancy; Honneth, Axel 2003. Umverteilung oder Anerkennung? Eine politisch-philosophische Kontroverse. 1. Auflage. Frankfurt am Main: Suhrkamp (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, 1460).

Geißel, Brigitte, Martin Neudecker und Alma Kollek. 2015. Dialogorientierte Verfahren. Wirkungsvolle oder sinnlose Innovationen? Das Beispiel Bürgerhaushalt. Zeitschrift für Parlamentsfragen 46 (1): 151-165.

Gombert, Tobias (Hg.) 2018. Grundlagen der Sozialen Demokratie. 5., überarbeitete Auflage. Bonn: Friedrich-Ebert-Stiftung, Akademie für Soziale Demokratie (Lesebuch der sozialen Demokratie, 1).

Güllner, Manfred. 2013. Nichtwähler in Deutschland. Forum Berlin. Berlin: Friedrich-Ebert-Stiftung.

Honneth, Axel 2011. Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit. 1. Aufl. Berlin: Suhrkamp. Online verfügbar unter http://www.fr-online.de/kultur/literatur/es-geht-um-die-wuerde/-/1472266/9723960/-/index.html.

Kemper, Jan. 2018. Ungleichheit in den Städten. Stadtentwicklung und soziale Ungleichheit. https://www.bpb.de/politik/innenpolitik/stadt-und-gesellschaft/216890/stadtentwicklung-und-soziale-ungleichheit?p=all.

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Roßteutscher, Sigrid, und Armin Schäfer. 2016. Asymmetrische Mobilisierung. Wahlkampf und ungleiche Wahlbeteiligung. Politische Vierteljahreszeitschrift 57 (3): 455-483.

Saar, Martin 2019. Ordnung – Praxis – Subjekt. Oder: Was ist Sozialphilosophie?In: WESTEND 2/2019. Schulden und schuld;neue zeitschrift fur sozialforschung. Frankfurt am Main: CAMPUS Verlag. 161-174.

Schäfer, Armin. 2015. Der Verlust politischer Gleichheit. Warum sinkende Wahlbeteiligung der Demokratie schadet. Frankfurt a.M.: Campus Verlag.

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Schäfer, Armin, und Michael Zürn. 2021. Demokratische Regression. Berlin: Suhrkamp Verlag.

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