Zeitkrise im politischen Raum und die verlorene Demokratie

Am vergangenen Dienstag lud die Heinrich-Böll-Stiftung zusammen mit dem Lehrstuhl für Politische Theorie und Ideengeschichte der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg zum Vortrag „Auf der Suche nach der verlorenen Demokratie – Die Zeitkrise im politischen Raum“. Referent war der Professor für Allgemeine Soziologie Hartmut Rosa von der Friedrich-Schiller-Universität Jena, der mit seiner zeitdiagnostischen Beschleunigungstheorie auch in überregionalen Medien bekannt wurde. Seiner Beobachtung nach haben wir es mit einer stetig beschleunigenden Moderne zu, in der alles und jeder immer schneller geht bzw. gehen muss (gehen im übertragenen Sinne). Und dieses Beschleunigungsphänomen hat auch (negative) Konsequenzen für unsere vermeintliche Demokratie. Die Frage des Abends lautete: Ist die repräsentative Demokratie zu langsam für die globalisierte Welt mit ihrem rasanten ökonomisch-technischen Fortschreitenden? Nach der These von Rosa hinkt das politische System anderen gesellschaftlichen Systemen zeitlich hinterher, und diese Desynchronisation führe dazu, dass die Demokratie die an sie gerichteten gesellschaftlichen Erwartungen nur noch begrenzt erfüllen kann und die Bürger politisch entfremdet werden. Kurz gesagt: Die Moderne ist die Lokomotive, die die langsame Kröte Demokratie überfährt.

 

Was ist Demokratie?

Um diese These zu begründen, begann Rose mit der Frage, was unter Demokratie eigentlich zu verstehen sei. Das liberale Aushandlungs- bzw. Aggregationsmodell (Bürger haben Interessen, die durch Parteien und Wahlen gebündelt und aggregiert werden und so umgesetzt werden) lehnt Rosa ab. Nach ihm mache etwas anderes Demokratie so attraktiv für Menschen in der ganzen Welt: Sie gibt jedem Bürger eine hörbare Stimme in einem gemeinsamen Raum, erzeugt also eine Resonanz. Demokratie sei das Mittel, um den stummen öffentlichen Strukturen, zu denen die Menschen zunächst kein „inneres Verhältnis“ besitzen, eine Stimme zu verleihen, sodass sich die Menschen in ihnen widerspiegeln können.

Über die Stimme, die wir aus Redewendungen wie „die Stimme abgegeben“ als politische Metapher kennen, entwickelte Rosa vier Konzeptionen: 1. Stimme im liberal-individualistischem Verständnis ist eben die abgegebene Stimme, die dann aggregiert wird. 2. Deliberativ ist es die Stimme der Vernunft, die zu rationalen Entscheidungen führen soll. 3. Das kommunitaristische Verständnis geht von einer klingenden, hörbaren Stimme (siehe Nancy Love: „Musical Democracy“, 2006) und davon aus, dass Demokratie auch gefühlt werden kann bzw. soll. 4. Das von Rosa spätmodern genannte Verständnis betrachtet die Stimme als Gelächter, als entfremdete Stimme. Die Menschen lachen nur noch über die Politik, was sich auch im weltweiten Aufschwung von politischen Satiresendungen („heute show“, „Die Anstalt“ etc.) ausdrückt.

Beschleunigung als Kennzeichen der Moderne

Wie konnte es soweit kommen? Rosas Ansicht nach ist das Kennzeichen der modernen Gesellschaft, dass sie sich nur dynamisch stabilisieren können, d. h., sie setzen auf stetiges Wachstum, Beschleunigung und Innovationsverdichtung, um sich zu erhalten. Sinnfällig wird dies in Politiker-Aussagen, die Wirtschaft müsse wachsen, damit wir Arbeitsplätze erhalten können. Das Ziel – gesellschaftlich wie auch auf individueller Ebene – ist, Kontakte und Optionen zu vermehren; Kinder wünschen sich multifunktionale Smartphones, um mehr Möglichkeiten zu haben. Es gibt aber eine Grenze dieses stetigen Wachstumsdranges: die Zeit, die kann nicht vermehrt werden. Mehr konsumieren, mehr produzieren etc. in der gleichen Zeit funktioniert nur über die Beschleunigung des Handelns, Multitasking und ähnlichem. Daher vergeht Zeit immer schneller und wird zum knappen Gut.

Die Desynchronisationskrise und ihre Folgen

Das hat Folgen, z. B. könne dadurch die Zunahme von Burnouts und Depressionen erklärt werden. Aber auch für die Demokratie entsteht durch die soziale Beschleunigung eine Desynchronisationskrise, die sich bspw. an der aktuellen Wirtschafts- und Finanzkrise nachvollziehen lasse. Die Finanzmärkte und die Wirtschaft im Allgemeinen braucht schnelle Entscheidungen, wenn in X nicht eine politische Maßnahme getroffen wird, kann in X+1 schon eine große Spekulationsblase geplatzt sein, Banken pleite sein, mit enormen finanziellen Schaden für die Allgemeinheit. Demokratische Politik aber braucht eher lange Zeit, sie will verschiedene Interessen berücksichtigen, in Verhandlungen ausgleichen und auch alternative Lösungen diskutieren. Es entsteht ein „Demokratisches Zeitparadoxon“: Bei steigendem Zeitbedarf (aufgrund komplexer werdender Gesellschaften und politischer Probleme) sinken die Zeitressourcen (je komplexer und individualistischer/pluralistischer die Gesellschaft, umso weniger ist selbstverständlich und umso mehr politische Entscheidungen müssen fallen). Die Idee der Moderne, dass Politik als Instrument zur Errichtung einer guten Welt dienen solle, wird so immer schwerer umsetzbar.

Die Bürger fühlen sich von der Politik entfremdet. Politik erscheine nicht mehr als Schrittmacher sozialen Wandels bzw. einer guten Welt, sondern nur noch als Feuerlöscher gegen akute Krisenherde. Statt politischer Gestaltung herrsche nur noch politische Anpassung nach dem TINA-Prinzip („there is no alternative“). Es gibt eine doppelte Resonanzkrise: a) Die Politik antwortet den Bürgern und ihren Ansprüchen nicht mehr, b) Die Welt antwortet nicht auf den Gestaltungsanspruch der Politik. Ausdrücke dieser Krise sind sinkende Wahlbeteiligungen (b), Protestwahl (a) und eine zynische Haltung der Bürger (Gelächter, Postdemokratie).

 


Die hier dargelegte Zeitdiagnose der unter die Räder der beschleunigten Moderne gekommenen Demokratie ist auf dem ersten Blick einleuchtend und deckt sich mit empirischen Beobachtungen im Alltag von Menschen, die immer mehr hetzen, immer mobiler sein wollen, die tausende „Freunde“ auf Facebook haben und gut vernetzt sein wollen; von einer nicht mit Wachstum aufhören wollenden Ökonomie und von einer Politik, die den Finanzmärkten hinterhechelt. Eine berechtigte Frage, die in der Diskussion nach dem Vortrag aufgeworfen wurde, ist, ob wirklich die Moderne die Lokomotive für die um sich greifende Beschleunigung ist oder nicht der Kapitalismus. Rosa beansprucht für seine Moderne-Definition universellen Charakter, sie gelte also auch für die nichtkapitalistischen Gesellschaften. Er sieht die Beschleunigungstendenzen auch in nichtkapitalistischen Subsystemen wie der Wissenschaft, die schon immer – auch vor Entwicklung des Kapitalismus – danach strebte, mehr Wissen in kürzerer Zeit anzuhäufen, um es als Schatz an die nächste Generation weiterzugeben. Dieses Streben nach etwas Neuem gelte auch für die Kunst; sie könne sich nur über Dynamik stabilisieren. Allerdings gibt Rosa zu, dass das Kapital eine bedeutende Kraft der Beschleunigung ist, er halte entgegen den Widersprüchen, die er von Kollegen erfahre, traditionsmarxistisch an der Formel G-W-G’ fest, denn Kapital werde zum Subjekt der Bewegung.

Vielleicht lässt sich die Frage so auflösen, dass der Prozess der Moderne (deren Beginn Rosa nicht explizierte) letztlich mit der Ausbreitung des Kapitalismus zusammenfalle, die mit der Entdeckung von Amerika einsetzte. Wobei ich zu bedenken geben will, dass das Gefühl der Beschleunigung, dass alles immer schneller gehen muss, noch nicht sehr alt ist und m. E. erst seit der Erfindung der Lokomotive und schnelleren Mobilitätsangebote existiert. Bis zur industriellen Revolution zumindest verlief das Leben zumindest in den ländlichen Räumen, in denen damals die meisten Menschen lebten, im Vergleich zu heute sehr gemächlich.

Interessant ist in jedem Fall Rosas Demokratieverständnis, das sich von minimalen liberalen Konzeptionen abhebt und auf aktive, sich Gehör verschaffen wollende Bürger setzt. Bedeutsam erscheint mir auch sein reaktivierendes Beharren auf dem Entfremdungsbegriff, um den derzeitigen Krisenzustand im Verhältnis von demos und politischen System zu beschreiben, und sein Klartext dahin gehend, dass „wir“ uns im Vergleich zum undemokratischen Ausland nicht so viel auf unsere so „tolle“ Demokratie einbilden sollten, da es so demokratisch gar nicht zugehe in Deutschland. Ob dieser Klartext nun so rigoros in akustische Metaphern gekleidet werden muss, sei dahingestellt.

Viel zu kurz geblieben sind die Lösungswege, auch wenn mit einer kritischen Zeitdiagnose in scheinbar unkritischen Zeiten schon viel gewonnen ist. Rosa hat drei misslingende Formen von Widerstand gegen die beschriebene Krise skizziert: zum einen die Digitalisierung der Demokratie (u. a. bei der Piratenpartei mit ihrer Liquid Democracy), was auf eine Beschleunigung der Politik hinausliefe; zweitens Facebook, Occupy, Tahrir-Platz etc., wo versucht werde, neue Resonanzwelten für die Bürger zu kreiieren, die aber ohne Gestaltungsanspruch reüssieren (d. h., Rosa problematisiert zurecht, das viele heutige Protestwellen unideologisch und ohne alternative Lösungen ab- und sich verlaufen); und schließlich als noch weniger wünschenswerter Widerstand bildet sich Fundamentalismus und (religiöser) Radikalismus, wie derzeit der IS, Boko Haram etc. Welchen Widerstand sich Rosa wünscht, hat er – wohl aus Zeitgründen – nicht weiter ausgeführt. Er sprach von einer Revolution, die zu einer anderen Weltbeziehung und zu einer anderen Beziehung der Individuen zum eigenen Körper führen soll. Das klingt danach, dass die entfremdeten, empörten Individuen es selbst richten sollen. Überzeugender scheint mir zu sein, dass, um dieses Beschleunigungssystem zumindest zu bremsen, sich die vereinzelten Individuen zu neuer Solidarität und Organisation zusammenfinden müssten, denn wie soll ein Kampf der jeweils Einzelnen gegen die unhaltbaren Zustände gewonnen werden?

Der Vortrag macht jedenfalls neugierig auf die Lektüre von aktuellen Texten Rosas, vielleicht erfährt man dann mehr zu diesen Problemen.

 

Literatur

Rosa, Hartmut (2014):»Resonanz statt Entfremdung. Zehn Thesen wider die Steigerungslogik der Moderne«, in: Konzeptwerk Neue Ökonomie e.V. (Hrsg.): Zeitwohlstand: wie wir anders arbeiten, nachhaltig wirtschaften und besser leben, München: Oekom-Verl., S. 62-73.

Rosa, Hartmut (2009): Kritik der Zeitverhältnisse. Beschleunigung und Entfremdung als Schlüsselbegriffe der Sozialkritik, in: Jaeggi, Rahel/ Wesche, Tilo (Hrsg.): Was ist Kritik? Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 23-54.

Rosa, Hartmut (2013): Beschleunigung und Entfremdung. Entwurf einer kritischen Theorie spätmoderner Zeitlichkeit. Berlin: Suhrkamp.

Rosa, Hartmut (2012): Weltbeziehungen im Zeitalter der Beschleunigung. Umrisse einer neuen Gesellschaftskritik. Berlin: Suhrkamp.

Rosa, Hartmut (2011): Beschleunigung: die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne. Frankfurt/M.: Suhrkamp.

Ein Gedanke zu „Zeitkrise im politischen Raum und die verlorene Demokratie“

  1. Danke für den spannenden Bericht! Ich finde Rosas Ausführungen gut und richtig aber wenig innovativ. Eigentlich sagt er nichts, was nicht etwa schon Paulo Virilio in den 70er Jahren gesagt hat. Problematisch finde ich eigentlich nur, dass Beschleunigung bei Rosa immer nur als Grund dient, warum etwas nicht mehr funktioniert oder schlechter funktioniert als früher (etwa die Demokratie – war die früher besser?). Gerade im Bezug zu den am Ende von dir angesprochenen fehlenden Lösungsvorschlägen würde ich mir wünschen, Beschleunigung auch im Umkehrschluss mal als Chance für Veränderung und Widerstand zu betrachten.

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