Offene Textrunde (V) – Gilles Deleuze ‚Postskriptum über die Kontrollgesellschaft‘

Gilles Deleuzes ‚Postskriptum über die Kontrollgesellschaft‘ ist ein faszinierendes und zugleich etwas kryptisch anmutendes Manifest. Das grundlegende Argument des Textes ist, dass wir uns im Übergang von einem alten Gesellschaftstyp in einen neuen befinden. Dieser neue Typ ist die Kontrollgesellschaft mit ihren besonderen Eigenschaften. Der französische Philosoph schrieb den Text im Jahr 1990, viele von den damals angesprochenen Entwicklungen und Fragestellungen scheinen aber erstaunlicherweise erst heute wirklich relevant zu werden. Ich habe den Text auch deshalb für den Lesekreis ausgewählt, weil mir diese Tatsache zumindest ein bisschen erklärungsbedürftig erscheint. Meine erste und vielleicht grundlegende Frage ist also, warum ein 24 Jahre alter Text so klar bestimmte Entwicklungen benennen kann, etwa die Veränderung der Arbeitswelt, den Zerfall der Institutionen oder die Bedeutung des Computers in allen Lebensbereichen? Gerade der sloganartige Schluss des Textes passt unverändert auf die gegenwärtigen Diskussion über das unternehmerische Selbst und die zunehmende Individualisierung. Doch zurück zum Anfang.

Der Text beginnt mit Michel Foucault. Der Wegbegleiter und Freund Deleuzes dient hier als Theoretiker eines alten Gesellschaftstyps. Foucaults Idee der Disziplinargesellschaft, die dieser in seinem Buch ‚Überwachen und Strafen‘ entwickelte, ist für Deleuze ein Gesellschaftstyp, der zunehmend der Vergangenheit angehört und der von der Kontrollgesellschaft abgelöst wird. Was war noch die Disziplinargesellschaft? Ihr wichtigstes Merkmal ist der Einschluss bzw. das Eingeschlossen-Sein in bestimmte Institutionen. In der Disziplinargesellschaft gibt es für jeden Lebensbereich und für jede Lebenslage eine Institution, in die jedes einzelne Individuum eingeschlossen ist: Schule, Fabrik, Familie, Heim, Universität, Gefängnis etc. Für Foucault zählt dabei nicht die Institution selbst, sondern die Art der Machtausübung, die jeder dieser Institutionen zugrunde liegt und sie zu einem Netz verbindet. Nicht die Schule und das Gefängnis sind Ursprung der Disziplinargesellschaft. Ursprung der Disziplinargesellschaft ist vielmehr der Machttyp, der um zu Herrschen alles genauestens anordnet, zusammensetzt,protokolliert, überwacht und eingrenzt.

Deleuze attestiert nun zu beginn der 90er Jahre diesem Machttypus eine schwere Krise. Jede der für die Disziplinargesellschaft charakteristischen Institution stehe unter ständigen Reformdruck. Jeder wisse überdies um Grunde „daß diese Institutionen über kurz oder lang am Ende sind“ (255). Die Krise ist nach Deleuze ein Anzeichen dafür, dass der zugrunde liegende gesellschaftliche Machttypus sich bereits gewandelt hat, oder dabei ist sich zu wandeln. Die Institutionen und der Einschluss in dieselben werden zunehmend unwichtiger. Ein neuer Gesellschaftstyp mit einer neuen ihn definierenden Form der Machtausübung ist im entstehen. Dieser neue Gesellschaftstyp ist die Kontrollgesellschaft, und Deleuze führt den Begriff zunächst über ein paar Gegenüberstellungen ein. Die Disziplinargesellschaft hatte die Fabrik, die Schule und die ans Gold gebundene Währung; die Kontrollgesellschaft hat das Unternehmen, die ständige Weiterbildung (‚lebenslanges Lernen‘) und das System der schwankenden Wechselkurse. Die Disziplinargesellschaft hatte Maschinen und die Produktion; die Kontrollgesellschaft hat den Computer und den Markt. Worauf lassen diese Gegenüberstellungen schließen?

Ich verstehe den Unterschied zwischen beiden Gesellschaftstypen im Bezug auf die Macht vor allem in einer Verlagerung hinein ins Individuum. Die Disziplinargesellschaft versuchte stets den Einzelnen von außen zu erfassen und zu beeinflussen (mit Ge- und Verboten). Die Kontrollgesellschaft überlässt diese mühselige Arbeit vermehrt den Einzelnen selbst. Deleuzes Gegenüberstellung von Fabrik und Unternehmen ist eindeutig: Die Fabrik mit dem strengen Reglement, genauen Pausenzeiten, Stechuhren, Fließbändern, Löhnen aber auch der Solidarität. Das Unternehmen mit der Konkurrenz, dem ‚unternehmerischen Selbst‘, der Forderung nach Selbstverbesserung und -optimierung. Die Macht zieht sich zurück, ohne aber ihre Wirkung zu verringern. Jeder wird selbst zu seinem eigenen, kleinen Unternehmen. Wenn man sagen kann, dass sich die Macht ins Individuum verlegt, darf man nicht vergessen, dass das Individuum zugleich radikal an Bedeutung verliert. Deleuze schreibt: „Die Individuen sind dividuell geworden“ (258). Die Disziplinarmacht, die von außen wirkte, behandelte das Individuum stets wie ein ‚ganzes‘, das es von außen zu beeinflussen galt. In der Disziplinargesellschaft musste jedes Individuum seine individuelle, unverwechselbare Nummer haben, seine feste Position. In der Kontrollgesellschaft ist jedes Individuum wiederum nur eines von vielen, eine Stichprobe in einer größeren Population. Das Individuum lässt sich zerlegen in bestimmte Motive, Geschmäcker, Ideen und Vorstellungen, die alle von der Macht angesprochen werden können.

Kurz gesagt würde ich Deleuzes Argument so zusammenfassen, dass die Kontrollgesellschaft weniger strikt scheint als die Disziplinargesellschaft. Doch sobald man hinter die Abwesenheit bestimmter von außen stammender Machtprozeduren und Techniken blickt, erscheint eine ganze Reihe von perfiden und unsichtbaren Herrschaftsmechanismen. Deleuzes knappes Resumme lautet: „Weder zur Furcht noch zur Hoffnung besteht Grund, sondern nur dazu, neue Waffen zu suchen“ (256). Damit geht der Text von der Analyse der Gesellschaftstypen hinüber zu einem eindeutigen Aufruf des Widerstandes gegen die Kontrollgesellschaft. „Viele junge Leute“, schreibt Deleuze am Ende, „verlangen seltsamerweise, ‚motiviert‘ zu werden, sie verlangen nach neuen Ausbildungs-Workshops und nach permanenter Weiterbildung; an ihnen ist es zu entdecken, wozu man sie einsetzt, wie ihre Vorgänger nicht ohne Mühe die Zweckbestimmung der Disziplinierung entdeckt haben“ (262).

Folgt man Deleuzes Argument stellt sich also zunächst die Frage, wie erfolgreich ‚die jungen Leute‘ dabei waren und sind, zu entdecken wozu man sie einsetzt?

Veröffentlicht von

Janosik Herder

hat in Bremen und Göteborg Politikwissenschaft studiert. Promoviert als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni Osnabrück gerade über die politische Bedeutung der Informationstechnik. Interessiert sich für Poststrukturalismus, kritische Theorie, Kybernetik, Informationstheorie, Algorithmen und soziale Bewegungen.

5 Gedanken zu „Offene Textrunde (V) – Gilles Deleuze ‚Postskriptum über die Kontrollgesellschaft‘“

  1. Danke JH für deine Einführung, sie hat mir den Unterschied zwischen Foucaults Disziplinar- und Deleuzes Kontrollgesellschaft etwas näher gebracht. Wobei ganz klar ist mir das immer noch nicht. Ich hatte beim Lesen immer so das Gefühl, dass beide Begriffe doch das Gleiche beschreiben. Die Individuen leiden unter fehlender Selbstbestimmung, seit Jahr und Tag sind sie fremdbestimmt und einer Diktaur ausgesetzt, die sich in unterschiedlichem Gewande zeigt. Mich überzeugt die Unterscheidung zwischen Disziplinar- und Kontrollgesellschaft nicht. Die heute ins Individuum verlagerte (quasi-freiwillige?) Fremdbestimmung wird doch immer noch von außen vermittelt, durch die Arbeitsbedingungen, Konsum- und andere Ideologien etc.

    Zu deiner ersten Frage, warum ein 24 Jahre alter Text so klar bestimmte Entwicklungen benennen kann: Bekanntlich haben auch andere prominente Autoren bestimmte gesellschaftliche Entwicklungen gut prognostizieren können, z. B. Karl Marx und Friedrich Engels im Kommunistischen Manifest die weltweite Expansion (Globalisierung) des Kapitals. Wie ist so etwas möglich? Ich denke, gute sozialwissenschaftliche Analyse, die Fähigkeit, das Wesentliche einer gesellschaftlichen Struktur und Entwicklung zu erfassen. Vor allem zeigt dies, dass gesellschaftliche Entwicklung immer historisch bedingt ist, d. h., dass sich gesellschaftliche Massenphänomene (z. B. die Prekarisierung von Arbeitsverhältnissen, die André Gorz schon 1980 erfasst hat und heute ein Top-Thema der Gewerkschaften und Politik ist) oft schon lange vor ihrer Ausprägung als Massenphänomen im Kleinen ankündigen.

    Es gibt einige Dinge, die mich an dem Text bzw. der darin repräsentierten theoretischen Denkweise stören: Zum einen die inflationäre Verwendung von Begriffen wie Kontrolle und Einschließen in Bezug auf die Institutionen Schule, Fabrik Kliniken etc.. Es verfestigt sich nach der Lektüre der Eindruck, alle Schulen, Kliniken und andere öffentliche Institutionen würden die Menschen wie in einem Gefängnis einschließen, fremdbestimmen. Ich glaube aber, dass das nur für bestimmte Insitutionen in einem bestimmten gesellschaftlichen Umfeld (sprich in der „bürgerlichen Gesellschaft“) zutrifft. Daher widerspreche ich auch dem Satz auf S. 256: „Die verschiedenen […] Einschließungsmilieus, die das Individuum durchläuft, sind unabhängige Variablen.“ Das kann ich überhaupt nicht nachvollziehen, wieso unabhängig? Schule, Kliniken, Gefängisse sind Institutionen, deren Abläufe bzw. despotischer Umgang mit den Menschen durch parlamentarische Gesetze und Verwaltungsakte geformt wird, also veränderbar und damit abhängig von politischen/gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen sind. Liegt hier ein typischer poststrukturalistischer Fehlschluss vor??
    Weiterhin fiel mir negativ auf, dass der Text sehr deskriptiv war und wenig zu den Ursachen des beschriebenen Wandels aussagte – oder hab ich das überlesen?
    Einige Sätze bzw. Begriffsverwendungen, muss ich mal sagen, fand ich Quatsch, also nicht nachvollziehbar, v.a. auf S. 258: Was soll das mit dem Maulwurf und der Schlange (Der alte Geldmaulwurf ist das Tier der Einschließungs-Milieus, während das der Kontrollgesellschaften die Schlange ist.“) Und völlig irritierend ist: „Überall hat das Surfen schon die alten Sportarten abgelöst“ (ebd.) – das passt an der Stelle m. E. gar nicht – aber vielleicht habe ich auch keine Fühler für politische Metaphorik…
    Schließlich störten mich die Kapitelüberschriften ein wenig, deren Bezug zum Kapitelinhalt für mich schwer erkennbar ist.

  2. Sorry für die späte Rückmeldung. Ich wollte eher zurückschreiben aber ich denke der Grund dafür war, dass deine Kritik zum Teil sehr berechtigt ist und eine Verteidigung des Textes, den ich nichtsdestoweniger sehr schätze, eigentlich relativ aufwendig. Ich versuche es jetzt trotzdem mal mit einer Kurzform und hoffe auf weitere Diskussion!

    Zunächst zu der Frage nach der Aktualität des Textes, die ich selbst gestellt habe und die berechtigterweise zunächst sehr einfach beantwortet werden kann. Gerade deinen Verweis auf Marx bzw. Denker_innen in marxistischer Tradition finde ich dabei bezeichnend, und ich meine, Deleuze lässt sich in dieser Hinsicht sehr gut als Marxist bezeichnen. Und zwar in dem Sinne, in dem Deleuze, wie Marx, in Tendenzen denkt und nicht in festen Kategorien. Nun steht zwar in jeder Deleuze Einführung sehr viel über den Antihegelianismus Deleuzes und dessen Ablehnung der Dialektik, aber das politische Denken Deleuzes ist im Grunde sehr dialektisch. Er sucht unter der Oberfläche der Gegenwart die gesellschaftlichen und politischen Tendenzen (die nicht unbedingt Widersprüche sein müssen), von denen die Gegenwart nur eine Momentaufnahme ist. Mein Argument wäre, dass überhaupt erst ein solches Denken in Tendenzen dazu befähigt, einigermaßen plausible gesellschaftstheoretische Szenarien zu entwerfen. Marx wäre ein Beispiel, ich meine, Deleuze auch.

    Anders als Marx sind für Deleuze Gesellschaftstypen aber nicht primär über ihr Produktionssystem, sondern ihr Herrschaftssystem bestimmt (was sich natürlich zum Teil stark überschneidet). Deleuze kann daher nicht argumentieren, dass Schule und Fabrik an sich keine ‚problematischen‘ Institutionen sind. Er kann nicht argumentieren, dass diese Instutitionen nur ’schlecht‘ innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft (d.h. im Kapitalismus) sind, wo sie abhängig vom Produktionssystem ihre eigentliche Funktion nicht erfüllen können. Für Deleuze sind diese Institutionen direkt Orte und Elemente der Herrschaftsausübung und als solche zu kritisieren. Ohne diese Institutionen bricht das von Deleuze (und Foucault) postulierte Herrschaftssystem der Disziplin zusammen, weil hier direkt Disziplin ausgeübt wird (Reglements, Übungen, Anforderungen = Konstitution bestimmter Subjekte). Heute ist das vielleicht nicht mehr direkt vorstellbar, aber im 19. Jahrhundert waren diese Institutionen – Schule, Fabrik, Gefängnis – die Garanten der gesellschaftlichen Ordnung. Man muss, fürchte ich, so weit gehen zu sagen, dass nach Deleuze diese Institutionen keine andere (sinnvolle) Funktion haben als Herrschaftsausübung innerhalb einer bestimmten Herrschaftsform. Andere Herrschaftsformen, und das zeigt Deleuze finde ich sehr gut, etwa die Kontrollgesellschaft, brauchen eigentlich überhaupt keine Schule, kein Gefängnis. An ihre Stelle treten, überspitzt gesagt, das lebenslange Lernen und die elektronische Fussfessel.

    Ist der Bezu auf Herrschaftstypen im Gegensatz zu Produktionssystemen der poststrukturalistische Fehlschluss?

    Zuletzt: Die Metaphorik Deleuzes ist in jedem Fall sehr eigen und wenig durchsichtig. Den Satz mit dem Surfen kenne ich z.B. aus einem anderen Artikel Deleuzes, dabei stellt er das Surfen als spezifische Sportart unserer gegenwärtigen Gesellschaft heraus (sich an die Gegebenheiten anschmiegen, mit der Welle gehen, auf die richtigen Chancen warten und aufsteigen etc.). Ich stimme aber vollkommen zu: Eines der großen Probleme beim Lesen von Deleuze ist, dass alles zunächst völlig konfus erscheint weil alle Ideen mit allen anderen vernetzt sind und mal auf dieses mal auf jenes Bezug genommen wird, ohne es weiter auszuführen. Ich würde aber dafür plädieren sich davon nicht abschrecken zu lassen 🙂

  3. Danke für den Text. Über Deleuze bin bisher ich in Uni-Seminaren allenfalls in Fußnoten gestolpert. Von mir selbst aus etwas von Deleuze zur Hand zu nehmen, hat bisher zu viel Überwindung gekostet.
    Kannst du eine Einführung empfehlen? An verständlicher Sprache läge mir viel.

    Ich wollte außerdem einen kurze Bemerkung zum Dialektik-Aspekt machen. Ich habe mich wahrscheinlich nicht genug mit dem Begriff auseinandergesetzt, das Denken in Widersprüchen schien mir aber bisher wesentlich für dialeketisches Denken. Wenn dieser Teil von Dialektik bei Deleuze aber herausfällt, wie lässt sich dann noch sagen, er sei „sehr dialektisch“? Die Suche nach Tendenzen unter der Oberfläche, so hätte ich gesagt, zeichnet generell kritische Theorien aus, ist also nichts speziell dialektisches.

  4. Zur kurzen Einführung finde ich die Einleitung von Friedrich Balke und Joseph Vogl in ‚Fluchtlinien der Philosophie‘ ganz gut. Das Buch kann man sogar kostenlos runterladen (wahrscheinlich nur wenn man im Uni-Netzwerk ist): http://bit.ly/1807JGF

    Ansonsten wenn man etwas Ausdauer hat ist das 8 stündige Interview ‚L’abécedéaire‘ ganz einsichtsreich. Da muss Herr Deleuze im Gespräch mit einer ehemaligen Studentin zu jedem Buchstaben im Alphabet eine Frage beantworten bzw. sich zu einem Begriff äußern.

    Zur Dialektik stimme ich zu, bei Deleuze folgen die Tendenzen unterhalb der Oberfläche nicht dem Schema des Widerspruchs. Kritische Theorie trifft es in jedem Fall besser!

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