Jaques Lacan: Das Unbewusste und die Tropen

„The Instance of the Letter in the Unconscious or Reason Since Freud“ beginnt mit einem Argument, das einem vielleicht bekannt vorkommt, auch wenn man, wie ich, bislang noch keine Begegnung mit Jaques Lacans Schriften hatte. Das Argument nämlich, das Unbewusste sei wie eine Sprache strukturiert. Der Titel des Aufsatzes ist im Übrigen englisch, da die Textgrundlage auf englisch ist. Der deutsche Titel des Aufsatzes lautet „Das Drängen des Buchstabens im Unbewussten oder die Vernunft seit Freud“ der französische Titel lautet L’instance de la lettre dans l’inconscient ou la raison depuis Freud. Ich habe mich für diesen Beitrag für die englische Neuübersetzung von Bruce Fink entschieden, da die deutsche Übersetzung aus den 70ern stammt und größtenteils vergriffen ist. Aktuell bereitet Hans-Dieter Gondek eine deutsche Neuübersetzung vor, von der der erste Band dieses Jahr bei Turia + Kant erscheinen soll.

Das grundlegende Argument also gleich zu Beginn. Sprache, so Lacan, sei das zentrale Instrument der psychoanalytischen Praxis – Sprache müsse also auch einen zentralen Stellenwert in der psychoanalytischen Theorie einnehmen: „My title conveys the fact that, beyond this speech, it is the whole structure of language that psychoanalytic experience discovers in the unconscious. This is to alert prejudiced minds from the outset that the idea that the unconscious is merely the seat of the instincts may have to be reconsidered“ (413). Sprache also statt Triebe, Sprache, die eine bestimmte Struktur hat und daher untersucht werden kann. Der Begriff des letters aus dem Titel meint aber bewusst nicht Sprache als System, sondern als „material medium [support] that concrete discourse borrows from language“ (413). Wir stehen, Lacan folgend, also analytisch irgendwo zwischen dem System der Sprache und dessen Manifestation im gesprochenen Wort – also dem, was Lacan, auf die materielle Dimension zielend, als Buchstaben oder eben als letter bezeichnet.

Diese anfängliche Erkenntnis führt Lacan in dem Aufsatz dann zur Auseinandersetzung mit der strukturalistischen Linguistik und deren Unterscheidung von Signifikant und Signifikat. Lacan orientiert sich hier vor allem an Ferdinand de Saussure. Grundsätzlich ist allerdings entscheidend, dass Lacan diese Rolle der Sprache aus einem ganz bestimmten Grund für entscheidend hält. Andernfalls ergäbe die Idee, das Unbewusste sei wie eine Sprache strukturiert, keinen Sinn. Der Grund ist „that language, with its structure, exists prior to each subjects entry into it at a certain moment in his [or her] mental development“ (413). Die Untersuchung des Unbewussten als Sprache erlaubt also die Auseinandersetzung mit einem System, in welches die Subjekte an einem bestimmten Punkt ihrer Entwicklung ‚integriert‘ werden müssen, um Subjekte sein zu können. Die radikale Einsicht Lacans ist, würde ich behaupten, dass wir es beim Unbewussten nicht mit etwas ‚ganz anderen‘ – Trieben, Instinkten – zu tun haben, sondern eben auch mit einer Form von symbolischer Ordnung, die sich untersuchen lässt.

Was schlägt Lacan also vor? Zur Erinnerung: Der Signifikant ist – klassisch aufgefasst – das Wort (Piktogramm etc.), das einen Gegenstand oder eine Idee bezeichnet, das Signifikat wiederum das, was damit bezeichnet wird, also der Gegenstand oder die Idee. Das Wort Computer bezeichnet also ein Ding oder eine bestimmte Idee. Das Signifikat wäre in dem Fall das, was damit bezeichnet wird, also das Gerät auf unserem Schreibtisch oder die Idee einer Maschine mit Tasten, Bildschirm usw. Lacan sagt nun, dass der Sinn oder die Bedeutung eines Signifikanten sich nicht vom Signifikat herleitet, also dem was man mit einem Signifikanten bezeichnet. Es gibt also kein notwendiges Verhältnis zwischen Wort und Ding. Der Signifikant gehört vielmehr zu einer eigenen Ordnung, in der er sich nur im Verhältnis zu einem anderen Signifikanten bestimmen lässt: „no signification can be sustained except by reference to another signification“ (415). Wir haben es also mit einer Signifikanten-Kette zu tun, einer signifying chain, bei der ein Signifikant nur durch Verweis auf einen anderen seine Bedeutung erhält.

Das hieße, nach Lacan, nun nicht, dass es keine Wirklichkeit gäbe, sondern dass wir sozusagen innerhalb einer symbolischen Wirklichkeit existieren und diese symbolische Ordnung materielle Auswirkungen hat: „The point is not to silence the nominalist debate with a low blow, but to show how the signifier in fact enters the signified – namely, in a form which, since it is not immaterial, raises the question of its place in reality“ (417). Sinn oder Unsinn ergibt sich demnach nicht aus der Übereinstimmung oder Abweichung zwischen Signifikant und Signifikat. Die Bedeutung existiert immer nur innerhalb einer ganzen symbolischen Ordnung, einer unendlichen Reihe von Signifikanten. Das führt Lacan zu einer wichtigen Schlussfolgerung: „What this structure of the signifying chain discloses is the possibility I have––precisely insofar as I share its language [langue] with other subjects, that is, insofar as this language [langue] exists––to use it to signify something altogether different from what it says. This is a function of speech that is more worthy of being pointed out than that of disguising the subject‘s thought (which is usually indefinable)––namely, the function of indicating the place of this subject in the search for truth“ (420-1).

Diese symbolische Ordnung, so würde ich diese Passage deuten, bestimmt die Möglichkeiten des Subjekts überhaupt etwas Bedeutsames zu sagen. Und mit Bezug auf das Unbewusste, das hier nicht explizit genannt wird, bestimmt die Ordnung vielleicht auch was und wie überhaupt begehrt werden kann. Bislang haben wir festgestellt, dass das Unbewusste eher wie eine Sprache strukturiert ist. Und dass wir es bei dieser Sprache nicht mit dem Verhältnis von Dingen und deren Bezeichnungen zu tun haben, sondern mit Bezeichnungsketten, die in ihrer Verkettung eine ganze symbolische Ordnung bilden. In diese Ordnung wird man als Subjekt integriert und diese Ordnung gibt gewissermaßen vor, was ‚man‘ sagen kann. Wir haben es also, wie Lacan im letzten Zitat andeutet, auch mit der Frage der Wahrheit zu tun. Wie funktioniert jetzt diese Bezeichnungskette und welche Rolle nimmt das Subjekt dabei ein? Im Rest des Aufsatzes schlägt Lacan zwei Begriffe für seine Untersuchung vor: metonymy und metaphor, also Metonymie und Metapher.

Die rhetorische Figur der Metonymie ist laut Duden die Ersetzung eines Ausdrucks durch einen ähnlichen, der in naher sachlicher Beziehung steht. Lacan nennt das Beispiel, dass etwa ‚30 Segel‘ für das Wort ‚Schiff‘ stehen können (421), der Duden nennt das Beispiel, dass sich das Wort ‚Dolch‘ mit ‚Stahl‘ umschreiben lässt. Grundsätzlich ist interessant, dass der Zusammenhang zwischen Segel und Schiff nur auf der Ebene des Signifikanten funktioniert, weil sich hier keine sinnvolle Verbindung zu dem Bezeichneten ziehen lässt. (Mit Stahl meinen wir in dem Moment, wo er den Dolch ersetzt eben nicht den Stahl, sondern auch den Dolch. Diese Ersetzung ergibt nur Sinn, wenn wir annehmen, dass sich der Begriff auf die benachbarte Bezeichnung Dolch und nicht auf das eigentlich Bezeichnete ‚Stahl‘ bezieht. Das Verhältnis ist also eines zwischen benachbarten Bezeichnungen innerhalb einer symbolischen Ordnung und nicht zwischen Bezeichnetem und Bezeichnendem.) Die Metonymie ist für Lacan das Sinnbild der signifying chain: „I shall designate as metonymy the first aspect of the actual field the signifier constitutes, so that meaning may assume a place there“ (421).

Die Metapher ist bekanntermaßen das Gegenteil, nämlich die Ersetzung eines Ausdrucks durch einen anderen, der dem Bedeutungszusammenhang eigentlich fremd ist. „One word for another: this is the formula of the metaphor, and if you are a poet you will make it into a game and produce a continous stream, nay, a dazzling weave of metaphors“ (422). Lacans Gedanken hierzu sind etwas opak. Es geht scheinbar um die Ersetzung und damit Verdrängung der eigentlichen Sache oder des eigentlichen Subjekts. So ersetzt die Metapher etwa eine Person durch einen Gegenstand in der Bezeichnungskette. Dadurch entsteht etwas, das Lacan poetic spark nennt, also eine Art kreativen Funken. Die Metahper erlaubt also durch ihre Bedeutungsentfremdung eine Art schöpferischen Akt. Mir ist der Zusammenhang noch nicht ganz klar, aber etwas später sagt Lacan dann passend dazu, dass die Metapher zeigt, wie Bedeutung aus Bedeutungslosigkeit gewonnen wird: „We see that metaphor is situated at the precise point at which meaning is produced in nonmeaning … and at which it becomes palpable that, in deriding the signifier, man defies his very destiny“ (423). (Ich kann das nur als Forderung deuten, dass der schöpferische Mensch die Realität der symbolischen Ordnung und der Möglichkeit, Bedeutung zu erfinden, anerkennen muss oder er betrügt sein Schicksal, nämlich schöpferisch tätig zu sein.)

Auf diese Bestimmung folgt die Diskussion dieser Überlegungen im Bezug auf Freuds Arbeiten. Es lohnt sich vielleicht hier schon einmal Lacans knappes Resümee vorzuziehen, in dem beide Konzepte noch einmal abschließend bestimmt werden: „For the symptom is a metaphor, if one likes to admit it or not, just as desire is a metonymy, even if man scoffs at the idea“ (439). Es geht also darum das Symptom als Metapher zu verstehen und die Metonymie als Begehren. Damit legt Lacan abschließend zwei Tropen als strukturelle Sinnbilder für das Unbewusste fest. Für die psychoanalytische Praxis ist damit entscheidend, dass das Unbewusste sich metaphorisch zeigt, die eigentlichen Probleme im Unbewussten also nicht direkt ausgedrückt werden, sondern in eigentlich fremden Bezeichnungen auftreten und gedeutet werden müssen (siehe Freuds Traumdeutung). Das Begehren wiederum funktioniert wie die Metonymie, es ersetzt ein Ding oder eine Person durch ein benachbartes Ding oder eine ähnliche Person.

Der Text ist natürlich noch wesentlich reichhaltiger (die Rolle des Other z.B.), aber ich würde an dieser Stelle erstmal abbrechen und nochmal eine grundlegende Frage stellen. Der Text entwickelt ja – wie gesagt – die Idee, das Unbewusste sei wie eine Sprache strukturiert. Allerdings bin ich mir beim Lesen nicht immer sicher gewesen, auf welcher Ebene Lacan argumentiert. Mir scheint, dass das, was Lacan als symbolische Ordnung bezeichnet, sich keinesfalls nur auf das Unbewusste beschränkt. Muss man nicht sagen, dass das Unbewusste nur eine Ebene der symbolischen Ordnung ist? Das neue an Lacan wäre dann nicht nur die Idee, dass das Unbewusste wie eine Sprache strukturiert ist, sondern dass alle klassischen Ebenen der menschlichen Psyche nach Freud (superego–ego–unconscious) zur symbolischen Ordnung gehören. Das Unbewusste würde sich dann vor allem dadurch auszeichnen, dass es strukturell den Figuren der Metapher und der Mytonymie gleicht.

Ich habe mich zum Schluss noch gefragt: Was bedeutet das eigentlich, dass das Unbewusste wie eine Sprache strukturiert ist? Heißt das nicht, dass selbst im Unbewussten, wo man, stumpf gesagt, noch einen Rest Neandertaler vermutet, eine Art Vernunft oder logos waltet? Das wäre zumindest eine Art Meta-Argument, das ich in Abgrenzung zu Freud ziemlich interessant fände. Eine letzte Sache, die mir beim Lesen sehr unangenehm aufgefallen ist, ist das Lacan (wahrscheinlich in klassisch psychoanalytischer Manier) nur vom männlichen Subjekt spricht, vom Vater und den Gefühlen des Vaterseins. Ich habe mich gefragt ob das mit dem Text zusammenhängt? Oder ist Lacan – ähnlich wie Freud – in erster Linie an allem, was nicht heterosexuell, weiß und männlich ist, erstmal nicht interessiert? Und wie verträgt sich diese starke Setzung mit der eigentlich allgemeineren Dimension einer strukturellen Bestimmung des Unbewussten?

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Literatur

Lacan, Jacques (2006): The Instance of the Letter in the Unconscious or Reason Since Freud. In: Écrits. New York: Norton, 412–441.

(Das Beitragsbild stammt aus der französischen Wikipedia und zeigt – offensichtlich!  – das Spiegelstadium nach Lacan)

Veröffentlicht von

Janosik Herder

hat in Bremen und Göteborg Politikwissenschaft studiert. Promoviert als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni Osnabrück gerade über die politische Bedeutung der Informationstechnik. Interessiert sich für Poststrukturalismus, kritische Theorie, Kybernetik, Informationstheorie, Algorithmen und soziale Bewegungen.

Ein Gedanke zu „Jaques Lacan: Das Unbewusste und die Tropen“

  1. Danke für den Beitrag und die Textzusammenfassung.
    Ich hab eigentlich auch nur ein kleine Anmerkung, da ich grad Laclau/Mouffe „Hegemony and Socialist Strategy“ lese. Ebenso wie schon bei dem Althusser Text und der bekannten Anrufungsszene, die aber im Text eher sekundär ist, wird auch im Text von Lacan scheinbar nebenbei eine Unterscheidung von Signifikant und Signikat gemacht, die dann aber gar nicht so zentral ist. Bei Laclau/Mouffe wird dieses Begriffspaar jedoch zu einem der zentralen Drehpunkte der Theorie und wird dann später stärker von Laclau als „empty signifier/leerer Signifikant“ herausgearbeitet .
    Also sehr spannend, wie bestimmte Teile, die vom eigentlichen Autor/in als nicht sehr wichtig erachtet werden, in Adaptionen aufgegriffen und zentrale Argumentationshilfen werden…

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