Lesekreis Demokratie (VIII): Slavoj Zizek

Das letzte Kapitel im Debattenband ‚Demokratie?‘ entstammt der Feder Slavoj Zizeks. In dem Kapitel kommen noch einmal viele Punkte und Ideen zur Sprache, die bereits in den vorigen Kapiteln des Bandes aufgetaucht sind. So war auch in den anderen Beiträgen des Buchs fast immer die Frage nach der Beziehung zwischen Demokratie und Kapitalismus Gegenstand der Untersuchung; ebenso häufig wurde die Doppeldeutigkeit des Demokratiekonzepts behauptet. Vielleicht lassen sich in der Diskussion ja gemeinsam nochmal einige einende Merkmale zusammentragen und besprechen, ob sich aus den vielen einzelnen Beträgen so etwas wie eine größere kritische Perspektive auf die Demokratie ergibt.

 

Erstmal zu Zizeks Beitrag: Da der Text mir zum Teil etwas zu konfus war, versuche ich zunächst einen groben Überblick zu geben und dann anschließend die verschiedenen Punkte genauer durchzugehen.

 

Ich habe den Beitrag insgesamt so gelesen: Zizek beginnt mit einer mehr oder weniger konkreten Definition von Demokratie. Diese sei dadurch gekennzeichnet, dass das Volk nur zum Schein herrsche. Daran anschließend und gegen diese Scheinherrschaft stellt Zizek ein ‚terroristisches‘ Potenzial der Demokratie fest, das er in dem emanzipatorischen Aufbegehren der Masse gegen die herrschende Ordnung verortet. Den Rest des Beitrages versucht Zizek dann die Art und das Subjekt dieses Aufbegehrens genauer zu bestimmen.

 

Aber im Detail: Zizek beginnt seinen Beitrag mit dem so genannten ‚Kapitalismus mit asiatischen Werten‘. Der Begriff bezeichnet die erfolgreiche Verknüpfung von Kapitalismus und strikter, autoritärer Herrschaft, wie wir sie gegenwärtig zum Beispiel in China beobachten können. Diese neue Verknüpfung ist für Zizek ein Epochenbruch: Vorher war der Kapitalismus zumeist untrennbar mit der Demokratie verbunden. Heute aber scheint es so, als würde kapitalistischer Fortschritt durch die Demokratie selbst behindert werden. Zizek fordert, wenig verwunderlich, Demokratie nicht für kapitalistischen Fortschritt aufzugeben. Gleichzeitig aber müsse man sich den Beschränkungen der repräsentativen parlamentarischen Demokratie stellen. Ich denke das ist der Ausgangspunkt der Argumentation: Das Plädoyer für eine ‚demokratischere‘, radikalere Demokratie.

 

Die Rolle des Bürgers in einer Demokratie sei, so Zizek weiter, dieselbe, die der König in der konstitutionellen Demokratie einnehme: er sei „ein König, der nur formell entscheidet und dessen Funktion darin besteht, Verordnungen zu unterzeichnen, die ihm von der ausführenden Verwaltung vorgelegt werden“ (117). Die Bürger herrschen also nicht tatsächlich, obwohl es entscheidend ist, dass es so aussieht als täten sie eben dies. Demokratie ist hier zunächst also nur der Schein der Herrschaft des Volkes, der gewahrt werden muss, obwohl alle wissen, dass die Herrschaft nicht wirklich ‚vom Volke‘ ausgeht.

 

Der Grund dafür, dass unsere ‚real existierende‘ Demokratie nur notwendiger Schein sei, liege in der grundsätzlichen Korruption der Demokratie. Im Gegensatz zur tatsächlichen Korruption, die ein demokratisches System erleiden könne, sei die grundsätzliche Korruption der Form der Demokratie immer schon eingeschrieben. Diese Korruption bestehe darin, dass zwar in Wahlen gewisse Meinungen repräsentiert würden, aber der Rahmen, den die Demokratie setzt, durch den demokratischen Prozess im Grunde nicht verlassen werden kann. Ich verstehe Zizek hier so, dass bei Wahlen zwar über gewisse Ding entschieden werden kann, dass aber die eigentlich entscheidenden Fragen nicht zur ‚Wahl stehen‘. Das Handeln derer, die eigentlich die Macht besitzen, kann mit dem übereinstimmen, was die Bürger wollen. So sagt Zizek: „Es kann demokratische Wahlen geben, die in Wahrheitsereignis darstellen“ (119). Doch seien Wahlen kein Medium der Wahrheit. Das Paradox, so deute ich Zizeks Aussage hier, ist, dass wir trotzdem Wählen und an die Demokratie glauben: „Kein Mensch nimmt Demokratie oder Gerechtigkeit mehr ernst, wir alle wissen um deren Korruptheit, und dennoch praktizieren wir sie, das heißt, wir demonstrieren unseren Glauben an sie, weil wir annehmen, daß sie auch wirken, wenn man nicht an sie glaubt“ (123).

 

Was ist Demokratie also für Zizek? Sie erscheint hier als eine Herrschaftsform, in der diejenigen, die formell die Macht haben, sie eigentlich nicht besitzen, aber dennoch so tun, als würden sie sie besitzen.

 

Gegen diesen status quo hilft – nach Zizek – die Tatsache, dass es eine demokratische Form von Gewalt gibt, eine „‚terroristische‘ Seite der Demokratie“ (125), die in unserer liberalen Demokratie als totalitäre Gewalt ausgeschlossen sei. Diese demokratische Gewalt besteht in der Erhebung der Masse des Volkes gegen die konstituierte Macht. Für Zizek ist dies das klassische Problem des Klassenkampfes; also der Frage, wie die besitzlose Mehrheit sich über die besitzende Minderheit hinwegsetzen könne. Diese demokratische Gewalt ist in der institutionalisierten Demokratie gezügelt, weshalb die Frage radikaler Politik nach Zizek die Frage danach ist, wie man diese Gewalt in die bestehende Demokratie (wieder) einführt.

 

Im folgenden (128-132) geht es um die Legitimität von Gewalt und darum, dass die Rechtsordnung der Demokratie auch auf ihrer eigenen Übertretung basiert. Zizek benutzt dazu Walter Benjamins Begriff der ‚göttlichen Gewalt‘. Es scheint um die Frage zu gehen, wann es legitim ist sich über Moralbewußtsein und Vorschriften hinwegzusetzen. Als Beispiel dient Zizek die vom ersten demokratisch gewählten Präsidenten Haitis verteidigte Praxis der Lynchjustiz von jahrelang systematisch unterdrückt und ausgebeuteten Bevölkerungsgruppen. Durch den primären und jahrelangen Rechtsverstoß der Unterdrücker hätten wir kein Recht dazu, diese anschließende Lynchjustiz zu verurteilen, weil sie „jenseits von Gut und Böse“ (130) sei. Ich verstehe Zizek hier so, dass er eine Art Legitimationsgrundlage zur Rebellion sucht. Aber ruft Zizek hier tatsächlich zur Gewalt auf?

 

Am Schluss findet sich doch eine eher subjektive Lösung des gesellschaftlichen Problems. Hier geht es darum, wie Macht auf das Subjektive wirkt. Zizek sagt hier, dass Macht nicht nur über Subjekte ausgeübt wird, sondern dass sie nur so lange funktioniert, wie die „Untertanen sie aktiv befördern und aufrechterhalten“ (132). Die Auflösung des unbewussten Begehrens danach beherrscht zu werden, sei wichtiger als der offene Widerstand gegen Herrschaft. Als Beispiel dient Zizek der Ausspruch von Melvilles Bartleby, der auf Befehle und Drängen stets antwortete: ‚Ich möchte lieber nicht‘ (‚I prefer not to‘). Laut Zizek komme in dieser Antwort nicht nur Widerstand gegen die Macht zum Ausdruck, sondern auch die Aufhebung des unbewussten Begehrens nach der Macht durch das Subjekt.

 

So resümiert Zizek dann auch mit der folgenden Forderung: „Es gibt also Raum für eine magische passive Revolution, welche die Macht, anstatt ihr direkt entgegenzutreten, allmählich zersetzt, indem sie wie ein Maulwurf im Untergrund wühlt und sich den Alltagsritualen und -praktiken verweigert, die ihr zugrunde liegen“ (135). Diese Gewalt der Verweigerung ist zwar im Kern gewaltlos, bezogen auf die von der herrschenden Ordnung geforderten Aktivität (die Zizek als falsche Aktivität, oder als Scheinaktivität bezeichnet) muss sie aber doch als Gewalt bezeichnet werden („Gewaltlosigkeit erscheint als die größte Gewalt“ (136). Am Ende scheint Zizek also eine passive Revolution, eine Revolte der Verweigerung zu fordern, um die korrupte Demokratie umzugestalten. Möchten sie Bürger sein? I prefer not to.

 

Dazu noch einige Gedanken

 

Okay, welche Fragen zieht Zizeks Beitrag nach sich? Eine Menge. Sofort beim Lesen habe ich mich zum Beispiel gefragt, wie die vielen, im Einzelnen überzeugenden Ideen hier zusammenpassen? Zum Beispiel finde ich Zizeks Definition von Demokratie raffiniert, und auch seine Forderung einer passiven Revolution am Ende sehr überraschend. Doch zwischendrin fehlen mir manchmal Meilen von Argumenten um die einzelnen Ideen miteinander zu verknüpfen. Zum Beispiel der Anfang: Der Kapitalismus mit asiatischen Werten und die Demokratie. Ist Demokratie nun nur ohne Kapitalismus möglich? Oder Kapitalismus nur mit Demokratie? Oder ist Demokratie in ihrer gegenwärtigen, repräsentativen Form schlecht? Warum hält Zizek an der Demokratie fest wenn er gleichzeitig behauptet, die Demokratie sei von ihrer Form her immer schon korrupt? Und was würde Bartleby dazu sagen? Vielleicht fehlt mir hier ein dialektischer Gedankensprung der die Form der Demokratie irgendwie mit ihrem Inhalt versöhnt – jedenfalls stehen in diesem Text viele gute Argumente und Ideen für sich ohne sich zu einem größeren Ganzen zu verknüpfen.

 

Eine zweite Frage betrifft die über den Lesekreis hinweg schon häufiger geäußerte Tatsache, dass wir in den verschiedenen Beiträgen immer wieder ähnliche Argumente vorfinden. Die Idee einer Demokratie, die ihren eigenen Ansprüchen nicht gerecht wird und die ‚radikale‘ demokratische Demokratisisierung der Demokratie finden sich in jedem Fall ebenso bei Brown, Ranciere, Badiou und Bensaid. Auch die Beziehung von Kapitalismus und Demokratie ist ein ‚alter Hut‘ (deshalb aber kein falscher…). Diese Übereinstimmung ist in jedem Fall schon mal ein Hinweis darauf, dass diese theoretischen Forderungen vielleicht berechtigt sind. Ich denke allerdings auch, dass sich die Positionen in vielen konkreteren Fragen dann doch unterscheiden. So wäre es bspw. spannend Zizeks eher pazifistische Haltung am Ende den anderen Positionen gegenüber zu stellen. Oder die doch sehr elaborierte Vorstellung des notwendigen Scheins der Demokratie gegen andere Lesarten von Demokratie zu betrachten. Dafür sind die Ausführungen im Buch aber vielleicht zu knapp und zu wenig aufeinander bezogen. Schmälert das das eher grobe und skizzenartige Anliegen eines kritischen Blicks auf die Demokratie? Oder regt es sogar dazu an, sich mit dem Begriff ‚Demokratie‘ nicht zufrieden zu geben und unangenehme Fragen zu stellen?

Veröffentlicht von

Janosik Herder

hat in Bremen und Göteborg Politikwissenschaft studiert. Promoviert als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Uni Osnabrück gerade über die politische Bedeutung der Informationstechnik. Interessiert sich für Poststrukturalismus, kritische Theorie, Kybernetik, Informationstheorie, Algorithmen und soziale Bewegungen.

2 Gedanken zu „Lesekreis Demokratie (VIII): Slavoj Zizek“

  1. Ich möchte deine Interpretation von Zizeks Beitrag so kommentieren:
    Ich meine, dass Zizek nicht mit einer Definition, sondern mit einer Zeitdiagnose begonnen hat, die er „welthistorischen Wandel“ nennt, nämlich der erstmaligen Trennung von Demokratie und Kapitalismus und der Ausbreitung des autoritären Kapitalismus von China über Russland in den Westen. Diese Diagnose verwendet eine implizite Demokratiedefinition, die mir gar nicht behagt und wo ich zweifle, dass linke, progressive Denker mitgehen können. Denn zu fragen ist, wann der Kapitalismus jemals mit Demokratie (wie sie von Linken verstanden wird) konform ging bzw. mit ihr verbunden war. Der Kapitalismus hat den völlig undemokratischen Feudalismus beseitigt, keine Frage, da gab es Demokratisierungsschübe, bürgerliche Freiheitsrechte wurden gewehrt, aber bekanntermaßen erst in der Form von Eigentums-, Meinungs-, Pressefreiheit etc., also als Abwehrrechte gegen den Staat und zur freien Entfaltung der Bourgeois. Positive Teilhaberechte gab es nur äußerst begrenzt und nur für die Eigentümer und den Adel, Frauen, mittellose Proletarier und zu Beginn auch die Kleinbürger wären von politischen Entscheidungen ausgeschlossen. Ich hoffe doch, dass Zizek solche „Demokratie“ eher nicht wünscht.
    Und darauf deutet ja seine Diagnose der Scheinherrschaft des Volkes hin. Deinen weiteren Ausführungen kann ich dann zustimmen, nur ist Zizek vielleicht zu hinterfragen, was die Kontrastierung von Chinas Kapitalismus mit dem westlichen Kapitalismus angeht. Der größte Unterschied ist m. E. nur, dass in China wenigstens nicht der Anschein von demokratischen Verhältnissen so ausgeprägt vorgegaukelt wird wie in Europa und den USA, die sich für die Vorreiter von Menschenrechten und Demokratie erklären und dabei gekonnt ihre eigenen Demokratiedefizite verschweigen (Abschottung gegen „Armutseinwanderung“, Kürzungen von Sozialleistungen in EU-Krisenstaaten etc.).
    Ganz bedeutsam finde ich Zizeks Problematisierung des Hinnehmens der Scheindemokratie, viele wissen, dass etwas nicht stimmt, aber – im Irrglauben – dass es nichts Besseres gibt, lassen wir Merkel & Co. weiter scheindemokratisch an der Macht. Und darüber sollten wir weiterforschen: Was sind die Mechanismen, mit denen der Schein der Demokratie so stark aufrechterhalten werden kann, dass die Menschen die Diktatur des Kapitals (was es de facto doch ist) hinnehmen. Da können wir bei Adorno und seine „Theoriefreunden“ anschließen (Stichwort Kulturindustrie z. B.), aber wir müssen uns auch mit dem staatlich verordnetem Antikommunismus und permanenten ideologischen Diskreditierung der Sozialismus-Idee beschäftigen sowie der Medienkritik widmen.
    Zizeks Ausweg aus dieser Scheindemokratie finde ich schon richtig, der Klassenkampf muss wieder forciert werden; dabei versucht er sich an einer Rehabilitation der Diktatur des Proletariats, die den bürgerlichen Antikommunisten ja lange Jahre die Steilvorlage für die Verdammung des Sozialismus im Osten gab. Das ist schon ein mutiges Unterfangen, doch der Versuch ist aus meiner Sicht durch seine etwas leichtfertige Verwendung des Begriffs Terror tendenziell zum Scheitern verurteilt. Richtig ist meiner Meinung nach aber die Unterscheidung von emanzipatorischer rund unterdrückender Gewalt sowie die Legitimierung der emanzipatorischen Gewalt in einer Gesellschaft, die die Mehrheit (des Pöbels wie er schön vulgär sagt) unterdrückt und ausschließt von politisch-gesellschaftlicher Teilhabe. Eine unrechte, ungerechte Ordnung dürfen/sollen die Unterdrückten nicht akzeptieren, es gibt in Demokratien ein Widerstandsrecht (sogar im GG. Art. 20 (4) festgeschrieben!).
    Und wie du sagst, scheint sie Zizek aber Gewalt nicht so wörtlich zu meinen und ruft zu einer passiven Revolution auf, was für Traditionskommunisten wohl wieder die Flanke zur Kritik öffnet. Denn die Frage muss erlaubt sein, ob ein allein passiver Widerstand die Herrschaft des Faschismus (so „schnell“) gebrochen hätte oder ob nicht der echte Griff zu den Waffen und die Partisanenkämpfe unter entscheidender Führung der Kommunisten in Italien, Griechenland und der Sowjetunion nicht doch hilfreich gewesen ist. Aber klar besteht zwischen der Herrschaft des gegenwärtigen autoritären Kapitalismus (noch!) ein erheblicher Unterschied zur Herrschaft des faschistischen Kapitalismus Hitlers – und so muss auch das Mittel des Widerstands nicht ganz so radikal ausfallen. Aber ob göttliche Gewalt und passive Revolution wirklich der Ausweg aus der Scheindemokratie ist, wage ich zu bezweifeln. Um einer Antwort näher zu kommen, sollte man sich mit den an unseren Universitäten viel zu stark vernachlässigten historischen Widerstands- und Revolutionsforschung widmen. Ich glaube, erster Schritt zum Ausweg wäre die Herstellung einer Gegenöffentlichkeit bzw. Aufklärung über die massive Verbreitung konzernunabhängiger Medien. Solange die BILD noch Millionenauflage hat und Zeitungen wie Junge Welt, ND oder l’Unita ums Überleben kämpfen müssen, wird sich der scheindemokratische Kapitalismus noch gut halten können.

    Aus Zeitgründen nur eine mögliche Antwort auf deine vielen berechtigten Fragen: „Warum hält Zizek an der Demokratie fest wenn er gleichzeitig behauptet, die Demokratie sei von ihrer Form her immer schon korrupt?“ Wahrscheinlich deshalb, weil er (wie ganz oben schon angedeutet) mit zwei unterschiedlichen Demokratiebegriffen hantiert. Er meint wohl, die Scheindemokratie des autoritären Kapitalismus ist korrupt – gut, siehe USA, da gewinnt der die Wahl, der die meisten Spendengelder von Big Business einfährt. Aber er hält an Demokratie fest, weil das ja nur eine Scheindemokratie ist und eine nichtkapitalistische Demokratie (von einer sozialistischen Demokratie/ demokratischem Sozialismus spricht er aber nicht, daher nur eine Hypothese) ist dann nicht so korruptionsanfällig.

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