Die Konjunktur der Solidarität

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„Je suis Charlie“, Demonstrationen gegen antisemitische Angriffe auf JüdInnen, Anti-Austeritätsproteste in Europa, der Umgang mit Geflüchteten in der europäischen Migrationskrisen, die Rede von Andrea Nahles auf dem SPD-Sonderparteitag oder Aufrufe zu 1. Mai-Demonstrationen teilen eine Idee: Die öffentliche Anrufung von Solidarität.[i] Solidarität wird gefordert, erklärt oder erwartet. Dies geschieht meist nach bzw. in einer „Krise“.[ii] Bis auf Marktradikale wie Ayn Rand oder Margret Thatcher, die jegliche soziale Beziehung, die über die familiäre Solidarität hinausginge, als unnötig und freiheitseinschränkend ansehen[iii], gibt es wohl kaum Parteien und Organisationen, die explizit Solidarität ablehnen würden. Womit haben wir es also hier zu tun?

Vom Römischen Recht zur Französischen Revolution

Semantisch hat Solidarität wohl ihre Ursprünge im Römischen Recht: Darin findet sich die Formulierung ‚obligatio in solidum‘, in der der einzelne für die Gruppe haftet und vice versa; das juristische Vorbild zum Musketier-Slogan ‚Einer für alle und alle für einen‘. Zudem gibt es starke christliche Bezüge, indem die katholische Glaubensgemeinschaft eine Bruderschaft vor Gott schafft, in der alle gleich sind und für einander einstehen. Besonders prominent wurde Brüderlichkeit respektive Solidarität im Zuge der Französischen Revolution und der Forderung nach ‚liberté, egalité und fraternité‘. Mitte des 19. Jahrhunderts hat sich in Kontinentaleuropa der Begriff im allgemeinen Sprachgebrauch schließlich konsolidiert.[iv]

Ausgehend von diesen historischen Verweisen, erscheint es mir weniger sinnvoll, Solidarität rein attributiv zu verwenden, wie Nahles es jüngst getan hat[v], sondern es ist wichtiger konzeptionelle Grundlagen von Solidarität zu beleuchten. Daher schlage ich vor, Solidarität im Zusammenhang mit drei Konzepten zu diskutieren: Solidarität und Gleichheit, Solidarität und Abgrenzung, Solidarität und Reziprozität.

Gleichheit, Grenzen und Reziprozität

Grundlegend für Solidarität ist die Annahme, dass auf Basis der Gleichheit aller Beteiligten agiert wird. Nichtsdestotrotz kommt Solidarität gerade dann ins Spiel, wenn einige Mitglieder Ungleichheit erfahren oder ihnen droht. Ein konkretes Beispiel wäre ein Streik als Solidaritätsaktion wegen drohenden Standortschließungen in einem Unternehmen. Alle Beschäftigen sind gleich, aber da einige vom Jobverlust bedroht sind, wird Solidarität bekundet, um den KollegInnen beizustehen und die Negativkonsequenz der Arbeitslosigkeit im besten Falle abzuwenden. Solidarität braucht also Gleichheit, um nicht willkürlich irgendwie irgendjemanden zu helfen, und ist auch anti-hierarchisch in der Stoßrichtung konkreter solidarischer Aktivitäten. Solidarität hat nicht das Ziel, dass die SolidaritätsgeberInnen über die SolidaritätsnehmerInnen herrschen, sondern Ungleichheiten zu bekämpfen und abzubauen. (Un-)Gleichheit und Solidarität sind daher unmittelbar miteinander verknüpft.

Globale Solidarität kann zwar plakatiert werden, aber in der Praxis ist Solidarität stets auf Grenzziehungen angewiesen. Solidarität wird mit einer bestimmte Gruppe (von Menschen) geübt.  Solidarisch wird eben mit Gruppe X agiert wird und nicht mit Gruppe Y. Solidaritätsaktionen haben ein konkretes Gegenüber und nicht ein abstraktes wie etwa Solidarität mit der gesamten Menschheit. Damit ist Solidarität eher partikularistisch als universalistisch zu verstehen. Zum Beispiel war Solidarität eng verknüpft mit nationalistischen Vorstellungen im anti-kolonialen Widerstandskampf des 20. Jahrhunderts. Ebenso war Frauensolidarität oder black solidarity zuerst die Solidarität unter Frauen oder Schwarzen, um Identität zu stiften und überhaupt zu wissen, wer mit wem Solidarität zeigt. Der notwendige zweite Schritt war dann zu fordern, dass sich auch andere Menschen mit den Zielen der Frauenbewegung und/oder Bürgerrechtsbewegung solidarisieren sollen. Grenzziehungen bei Solidarität sind demnach notwendig, aber diese Grenzen sind nicht starr, sondern reflexiv und verhandelbar.

Reziprozität ist ein auf Zeit gestelltes Versprechen, dass eine Person einer anderen zu einem bestimmten Zeitpunkt etwas gibt und im Fall der Fälle diese Person der anderen zu einem späteren Zeitpunkt in ähnlicher Weise beisteht/behilflich ist. Dabei ist letztere Unterstützung nicht einklagbar, sondern basiert auf dem gegenseitigen Vertrauen (und Gleichheit), dass die etablierte Beziehung durch die erste Hilfeleistung die Zeit überdauert und zum gegebenen Anlass aktiviert wird. Reziprozität ist wohl das anspruchsvollste Kriterium der Solidarität, da meist am umstrittensten ist, wer was wie wem gegeben hat bzw. wieder einfordern kann. Jedoch basiert das gesamte Wohlfahrtsstaatsprinzip eben darauf. Die Sozialversicherungssysteme bestehen, weil Bürgerinnen und Bürger darin einzahlen und erwarten, dass bei Renteneintritt oder im Falle einer schweren Krankheit, Berufsunfähigkeit o.ä. zum gegebenen Zeitpunkt die Gemeinschaft dafür einsteht. Diese institutionalisierte Solidarität soll gewährleisten, dass man auch im hohen Lebensalter abgesichert ist und einem geholfen wird, mit den möglichen negativen Erfahrungen und Konsequenzen umgehen zu können. Ohne Vertrauen, gleiche Behandlung und der Erwartung, dass einem etwas in angemessenem Maße zurückgegeben wird, würde der Sozialstaat schnell zusammenbrechen.

Jenseits der Leerformel ‚Solidarität‘

Was heißt das nun für die solidarische Praxis bzw. eine solidarische Politik? Erstens, wer von Solidarität redet, sollte auch von (Un-)Gleichheit sprechen. Beides bedingt einander und obendrein kann gegen eine grassierende Ungleichheit mobilisiert werden, um Solidarität mit den Betroffenen zu zeigen.   Zweitens, Solidarität sollte mit den Armen und Schwächsten der Gesellschaft gezeigt werden, aber eben auch mit Fremden. Die Grenzen der Solidarität sollten nicht durch Vorurteile, Missgunst oder Neid bestimmt werden und auch nicht auf dem Ausspielen der verletzlichsten Gruppen und Minderheiten gegeneinander basieren. Dies widerspricht der Gleichheitsannahme und ist das was Sally Scholz ‚parasitäre Solidarität‘ nennt.[vi] Drittens, solidarisch zu handeln heißt nicht direkt Bedingungen zu stellen unter denen ausschließlich geholfen wird. Dies wäre die Ausübung von Herrschaft und das Regieren über einseitige Abhängigkeiten. Stattdessen muss Vertrauen gegenüber denjenigen gezeigt werden, die gerade Unterstützung benötigen. In der Konsequenz heißt solidarisch handeln auch stets bestehenden Machtasymmetrien und Herrschaftsverhältnisse anzuzweifeln und denen etwas – nämlich Solidarität – entgegenzusetzen.

Solidarität ist sicherlich einer der Schlüsselbegriffe der Gegenwart und dessen häufige öffentliche Anrufung zeigt dessen Potential und Anziehungskraft an. Nichtsdestotrotz offenbart sich gerade in dieser Omnipräsenz die Krux: Wenn stets und ständig von verschiedenen Seiten Solidarität gefordert wird und wenn sie in nahezu allen Politikbereichen aktiviert werden soll, dann birgt das die Gefahr, dass der Begriff alltagspolitisch sowie gesellschaftlich zur Leerformel verkommt. Und davon gibt es schon genug.[vii]

 

[i] Einige beispielhafte Referenzen: http://www.handelsblatt.com/politik/international/weltweite-solidaritaet-nach-anschlag-je-suis-charlie/11200144.html, http://www.juedische-allgemeine.de/article/view/id/31408, http://www.attac.de/fileadmin/user_upload/Kampagnen/Euro-Krise/material/Attac_Solidaritaet-Nicht-Austeritaet.pdf, https://www.zeit.de/politik/ausland/2015-09/fluechtlinge-eu-innenminister-verteilung-kommentar, https://www.spd.de/aktuelles/detail/news/unser-versprechen-solidaritaet/22/04/2018/, http://www.dgb.de/extra/1-mai-tag-der-arbeit.

[ii] siehe auch Wallaschek, Stefan (2016): Sammelbesprechung: Krise der Solidarität – Solidarität in der Krise. In: Zeitschrift für Vergleichende Politikwissenschaft, 10, 1, 93-102; Wallaschek, Stefan (2016): Solidarität in der Europäischen Union. Anmerkungen zur aktuellen Debatte. Widerspruch, 35, 62, 97-114.

[iii] Stefan Wallaschek (2012): Von Ayn Rand zu Paul Ryan: Kapitalismus als Moral. In: Blätter für deutsche und internationale Politik, 58, 10, 9-13.

[iv] ausführlich dazu Bayertz, Kurt (1998): Solidarität: Begriff und Problem. Frankfurt a.M.: Suhrkamp; Brunkhorst, Hauke (2002): Solidarität: Von der Bürgerfreundschaft zur globalen Rechtsgenossenschaft. Frankfurt a.M.: Suhrkamp; Schieder, Wolfgang (1972): Brüderlichkeit, Bruderschaft, Brüderschaft, Verbrüderung, Bruderliebe. In: Brunner/Conze/Koselleck (Hrsg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland. Band 1, Stuttgart: Klett, 552-581.

[v] Nahles spricht in ihrer Rede von verschiedenen Solidaritätsformen. So referiert sie über die solidarische (!) Marktwirtschaft, fordert die solidarische Arbeitsgesellschaft und beschwört die organisierte Solidarität im deutschen Sozialstaat.

[vi] Scholz, Sally J. (2008): Political Solidarity. University Park, Pa: Pennsylvania State Univ. Press.

[vii] Ich danke Sandra Reinecke und Daniel Staemmler für hilfreiche Kommentare zu früheren Textversionen.

Veröffentlicht von

Stefan Wallaschek

hat in Halle, Amsterdam und Bremen Politikwissenschaft und Ethnologie studiert. Er promoviert zu Solidarität in Europa in Zeiten der Krisen an der Bremen International Graduate School of Social Sciences (BIGSSS)/Universität Bremen. Zuletzt veröffentlichte er in der Zeitschrift für Politische Theorie den Artikel "Chantal Mouffe und die Institutionenfrage" (Heft 1/2017).