Demokratietheorie in der Falle?

Die Bundestagswahl ist Geschichte und wie vermeintlich jedes Mal vor und nach der Wahl wird über (un-)gerechte Wahlmodi, Nicht-Wähler_innen oder die Repräsentationsfunktion des Parlaments diskutiert. Manche fordern eine Wahlrechtsreform, andere die Wahlpflicht und möglicherweise am ausgefallensten ist der Vorschlag eines AutorInnen-Teams auf dem Theorieblog, die die Einführung von Negativstimmen diskutieren. So interessant die gesamte Debatte auch sein mag und zeigt, dass demokratische Verfahren nicht einfach hingenommen werden, bleibt die Diskussion seltsam festgefahren.

Demokratietheoretische Ueberlegungen drehen sich v. a. um die Wahl- und Repraesentationsfunktion in Demokratien. Dies erscheint mir aber als zu eng und verkuerzt das Demokratieverstaendnis auf das gegenwaertig herrschende: Dass der repraesentativen Demokratie. In der Debatte vom Ist- auf den Soll-Zustand geschlossen. „Nur“ weil die repraesentative Demokratie derzeit hegemonial ist, sollte das fuer die theoretische Auseinandersetzung nicht heissen, bei dieser Form die Grenzen der Theorie zu ziehen und nur noch Reformen des Gegenwaertigen zu artikulieren. Exemplarisch fuer meine These der Verengung sehe ich die Ueberschrift im schon erwaehnten Theorieblog-Beitrag. Dort heisst es:“Theoretische Reflexionen über das Herzstück der Demokratie“. Die Demokratie wird zum Koerper und die Wahl mit dem Herz assoziiert. Selbstredend kann die Ueberschrift dem Kontext – Bundestagswahl – geschuldet sein, doch in der Formulierung liegt aus meiner Sicht mehr als ein Koernchen Wahrheit. Die AutorInnen des Beitrags machen naemlich einen Reformvorschlag, der nicht nur das Herz (die Wahl) wiederbeleben, sondern auch den Koerper (die Demokratie) attraktiver, besser, aktiver machen soll. Damit wird jedoch suggeriert, dass ohne Wahlen der Koerper gar nicht existieren koennte. Alle weiteren Organe, Koerperteile wuerden nicht ueberleben. Sprich, ohne Wahlen keine Demokratie.

Uebersetzt in die Demokratietheorie bedeutet dies, dass andere Institutionen und Verfahren eine mindere demokratietheoeretische Relevanz haetten. Damit wird Demokratie – die Herrschaft des Volkes – zu stark auf ein Verfahren verkuerzt, welches scheinbar nur reformiert, aber nicht grundsaetzlich in Frage gestellt werden sollte. Dabei bietet der Ist-Zustand genug Ansatzpunkte fuer eine grundsaetzliche Kritik.

Warum schlaegt das Herz nur aller vier Jahre (respektive fuenf Jahre bei einigen Landtagswahlen) und nicht stets und staendig? Der Koerper bleibt so die Huelle, die nur von bestimmten Organisationen und Institutionen in einem bestimmten Zeitfenster (waehrend des Wahlkampfes bis zum Wahltag) ins Leben gerufen wird. Diee Buerger_innen werden zu Waehlenden degradiert und nicht als potentiell muendige Menschen wahrgenommen, die abseits des Wahlprozederes Demokratie machen. Warum wird Demokratie auf einen Akt reduziert, der zwar medial, politisch und gesellschaftlich breit diskutiert wird, aber die eigentliche Praxis – Stimmenvergabe per Ankreuzen – keine Minute dauert? Soll Demokratie nur eine Tagesveranstaltung (dem Wahltag) sein? Warum heisst es „repraesentative Demokratie“, also dass Abgeordnete die Interessen des Volkes vertreten sollen, wenn sie laut Grundgesetz (Art. 38) „nur ihrem Gewissen unterworfen sind“ und daher die Repraesentation eher relativ zu sehen ist; abgesehen davon, dass der „Volksvertretungsgedanke“ zunehmend zweifelhaft wird? Kann es sich eine Theorie weiterhin erlauben, Demokratie nur auf eine Institution zu fixieren? Trotz gewisser Stabilitaet des politischen Systems Demokratie kann schliesslich festgestellt werden, dass es ein vermehrtes Desinteresse juengerer Waehler_innen an eben dieser politischen Institution – Wahl – besteht? Scheinen sich daher bei dieser Gruppe Demokratie und das Politische voneinander zu entfernen? Und passiert das nicht besonders bei Juengeren, weil sie demokratische Formen in anderen Zusammenhaengen kennenlernen und praktizieren (in NGO’s, studentischen Organisationen oder eher unkonventionell auf Demonstrationen, selbstorganisierten Veranstaltungen und Formen des zivilen Ungehorsams) und daher wissen, dass Demokratie nicht nur auf das Waehlen reduziert werden sollte?

Festzuhalten bleibt, dass eine Selbsteinschraenkung der Demokratietheorie auf repraesentative Wahlen als „Herzstueck der Demokratie“ zwangslaeufig in die politik-theoretische Sackgasse fuehrt. Daher gilt es, Demokratietheorie neu zu denken. Wieso nicht die verschiedenen demokratischen Praxen, die viele Menschen regelmaessig machen, in den Blick nehmen? Lebt der Koerper Demokratie nicht gerade dann auf, wenn alle seine Glieder und Organe voll aktiv und staendig in Bewegung sind? Ist es nicht substantieller, Demokratie als Ausdruck von Mitbestimmung, Egalitaet, Autonomie und Freiheit der Menschen in verschiedenen Zusammenhangen und Handlungen zu analysieren; statt anhand der Wahlbeteiligung die Vitalitaet einer Demokratie zu bestimmen?

Moegliche Fragen koennten z. B. sein: Ermoeglicht die politische Ordnung eine breite, diskriminierungsfreie Partizipation der Menschen am Willens- und Meinungsbildungsprozess abseits von Organisationszugehoerigkeiten wie Parteien oder Verbaenden? Sind alle von politischen Entscheidungen betroffenen wirklich angehoert wurden und hatten demnach alle den gleichen Einfluss auf den Entscheidungsprozess? Wird es den Menschen ermoeglicht autonom zu handeln, sich eine eigene kritische Meinung zu bilden und wird damit Raum fuer die freie und eigene Entfaltung gelassen?

Sind es nicht solche und aehnliche Fragen, die die Demokratietheorie stellen und in ihren Fokus ruecken sollte, damit die Demokratietheorie ihre wahltheoretischen Scheuklappen verliert?

 

 

An dieser Stelle sei erwaehnt, dass die AG Politische Theorie fuer diesen Herbst einen neuen Lesekreis plant. Gelesen werden soll der Sammelband „Demokratie?: Eine Debatte“, welcher 2012 bei Suhrkamp erschien. Wer sich in irgendeiner Form am Lesekreis beteiligen moechte, kann sich gerne per Mail bei der AG oder Kommentar unter diesem Beitrag melden.

 

 

Veröffentlicht von

Stefan Wallaschek

hat in Halle, Amsterdam und Bremen Politikwissenschaft und Ethnologie studiert. Er promoviert zu Solidarität in Europa in Zeiten der Krisen an der Bremen International Graduate School of Social Sciences (BIGSSS)/Universität Bremen. Zuletzt veröffentlichte er in der Zeitschrift für Politische Theorie den Artikel "Chantal Mouffe und die Institutionenfrage" (Heft 1/2017).

Ein Gedanke zu „Demokratietheorie in der Falle?“

  1. Vielen Dank für den lesenswerten, weil anregenden Text, SW.

    Ich bin durch mein Studium überzeugter Republikaner geworden, und wer Rousseau und Arendt gelesen hat, weiß, dass Demokratie nicht allein alle vier Jahre an der Wahlurne stattfindet bzw. stattfinden sollte. Wie hat Rousseau geschrieben: „Das englische Volk wähnt frei zu sein; es täuscht sich außerordentlich; nur während der Wahlen der Parlamentsmitglieder ist es frei; haben diese stattgefunden, dann lebt es wieder in Knechtschaft, ist es nichts” (Der Gesellschaftsvertrag).
    Auch du schreibst, dass Demokratie nicht auf das gegenwärtig herrschende, das Wählen verkürzt werden dürfe. Diejenigen, die die Idee der Demokratie derart verkürzen, vergessen m. E., dass selbst unsere repräsentative „Demokratie“ (ich nenne dieses System nicht Demokratie, dazu später) über andere demokratische Instrumente verfügt: Parallel zur Bundestagswahl fand in Hamburg ein Volksentscheid statt – herzlichen Glückwunsch übrigens nach Hamburg, die 100%-ige Rekommunalisierung der Stromversorgung ist die absolut richtige Entscheidung! Auf Landes- und kommunaler Ebene ist direkte Demokratie schon angekommen, wenn jetzt noch der Bund nachziehen könnte, wäre das System schon ein bisschen demokratischer. Aber es gibt noch mehr Demokratie in diesem Land: Bürgerinitiativen protestieren gegen überdimensionierte Großprojekte wie Stuttgart21 oder Fluglärm etc.; Bürger gründen neue Parteien (AfD); auch wenn diese Parteien nicht immer fortschrittliche Ideen verfolgen, so sind diese Elemente Ausdruck einer lebendigen „Demokratie“, die nicht nur aus Wahlen besteht.
    Aber das alles kann man nicht wirklich Demokratie nennen, auch wenn es nicht gerade eine Diktatur im reinen Sinne ist. Wir leben in einer kapitalistischen Gesellschaft, d. h., es kann gar keine echte Demokratie geben – höchstens soviel Demokratie wird zugestanden, dass das herrschende System nicht gefährdet wird. Wer die systemtreuen Bahnen auch nur ein wenig verlässt (siehe LINKE, teils sogar AfD), wird als Populist, Radikaler oder gleich als Extremist denunziert und der öffentlichen Schande preisgegeben. Und so ist, wie du richtig erwähnst, die Wahl (praktisch wie theoretisch) nicht das Herzstück der „Demokratie“, sondern ein letztes Zugeständnis an die freiheitlichen Forderungen der Bürger. Die kapitalistische „Demokratie“ endet vor den Toren der Fabrik/der Unternehmen, endet an der nationalstaatlichen Grenze, an den Grenzen kirchlichen Sonderrechts und – jeder hochschulpolitische Aktivist kennt es – vor dem Zimmer des Rektorats.
    Was damit gesagt sein soll: Die Arbeiter/Arbeitnehmer dürfen zwar einen Betriebsrat wählen, das ist besser als nichts – aber darf das betriebliche Mitbestimmung oder gar Demokratie genannt werden? Was darf der Betriebsrat machen, wenn der Eigentümer der Produktionsmittel sagt: „Liebe Mitarbeiter, ich nehme mir die Unternehmer-/Kapitalfreiheit und verlagere meine Fabrik nach Rumänien“. Dann sind ein- bis zweitausend Arbeitsplätze in Bochum weg und der Betriebsrat kann außer empörtes Aufschreien nichts machen (sofern er sich an gesetzliche Vorschriften hält – was die reformistischen, untertänigen Gewerkschaften in Deutschland i. d. R. machen). Die Arbeiter und ihre Gewerkschaft haben keinen Einfluss auf das Was, das Ob und nur wenig Einfluss auf das Wie der Produktion. Was und wofür produziert wird, entscheidet allein der Kapitalist. Ob die produzierten Güter überhaupt einen nennenswerten Gebrauchswert haben, ist uninteressant, Hauptsache Wachstum.
    Dieses lässt sich auf die anderen demokratiefreien Räume übertragen: Die EU ist noch weniger demokratisch als die kapitalistischen Einzelstaaten (wie kontrolliert das Volk die Kommission? Kapitalfreizügigkeit und ungehinderter Wettbewerb sind oberste Grundrechte in der EU etc.); Die Kirchen und ihre Sozialdienste können Pflegeeinrichtungen betreiben, in denen nicht richtig gestreikt werden und Mitarbeitern wegen Ehescheidung gekündigt werden darf. Und die gewählten Gremien der Universität können vieles beschließen; wenn der Rektor eine Strukturanpassung mit dem Landesministerium verabredet, ist das geltendes Recht – da können Senat und StuPa viele Resolutionen beschließen; Wahlbeteiligungen bei Hochschulwahlen kaum über zehn Prozent können da eigentlich nicht mehr überraschen (wobei diese noch andere gesellschaftliche Ursachen haben).
    Und hier ist noch nicht gesprochen vom ungleichen Einfluss der Verbände auf die Parlamentarier. Je besser ein Lobbyverein mit finanziellen Ressourcen ausgestattet ist, um so größer seine Chancen auf erfolgreiches Einwirken auf Gesetzesformulierungen. Wann hat das Erwerbslosenforum zuletzt ein für seine Klientel maßgeschneidertes Gesetz durch den Bundestag gebracht und wann der Bankenverband? Die Frage ist rhetorisch.
    Das Herz der Demokratie müsste ständig schlagen, richtig. Z. B., indem es in der Mitte jeder Wahlperiode die Möglichkeit gibt, dass durch Sammeln von Unterschriften (Quorum: meinetwegen 33 %) eine Abwahl bzw. Neuwahl des Wahlkreisabgeordneten möglich ist. Bundesweite Volksentscheide über Kriegseinsätze, große Sozialreformen und ähnliche grundlegende Fragen (Kompetenzverlagerung nach Brüssel) müssen möglich werden – auch wenn mir die Gefahren der unmittelbaren Demokratie in einem kapitalistischen Land bekannt sind (z. B. dass wenig Gebildete/Geringverdiener seltener zu solchen Volksentscheiden gehen).
    Zu einer umfassenden Demokratisierung gehört eine Ausfinanzierung der Kommunen; und v. a. gehört dazu eine umfassende politische Bildungskampagne. Wann kommt der angeblich mündige Bürger denn mal in Kontakt mit politischer Bildung? Nach dem Schulabschluss findet da bei den meisten Leuten nichts statt; nicht von ungefähr glaubt fast ein Drittel der Wahlberechtigten, dass das, was Merkel so macht, (gute) Politik sei. Wenn die Unmenge an Politikwissenschaftlern, die in diesem Land ausgebildet wird, eine sinnvolle Betätigung finden sollen, dann wäre sie hier zu finden: Jeder Bürger müsste jedes Jahr politische Weiterbildung bekommen, um sich ein besseres Urteil über politische Prozesse und Entscheidungen in diesem Land zu bekommen. Tageszeitungen müssten genau wie öffentlich-rechtliche Rundfunkanstalten eine finanzielle Grundausstattung bekommen, um aus dem Einflussbereich an profitorientierten Verlegern rauszukommen und einen gewissen Qualitätsjournalismus sichern zu können (staatlicher Einfluss auf Inhalte müsste natürlich verhindert werden; Lesergenossenschaften wie bei taz und Junge Welt sind vorbildlich).
    Abschließend noch ein Gedanke zu dem von dir erwähnten Desinteresse der Jungwähler: Mag dieses Desinteresse auch nachvollziehbar sein, es ist sehr gefährlich. Denn trotz aller Kritik an der Reduktion von Demokratie auf die Wahl alle vier Jahre: Dieses Wahlrecht wahrzunehmen, ist wohl wirklich alternativlos, denn es ist doch mit das einzige egalitäre Partizipationsrecht in diesem System. Wer das Wahlrecht nicht in Anspruch nimmt, ist wirklich dem System ausgeliefert und nimmt in Kauf, dass andere bestimmen, wie es politisch weitergeht. Wählen gehen, ist solange sinnvoll, wie auf dem Wahlzettel echte politische Alternativen stehen: Wenn die Wahlbeteiligung auf 50 oder 40 % sinkt, wird das bei den Herrschenden zwar ein besorgtes Stirnrunzeln verursachen, aber bestimmt keinen grundlegenden Politikwechsel. Wenn diese Nichtwähler stattdessen zu 50 oder 60 % die LINKE, DKP oder so wählen bzw. (weniger utopisch) zu 30 % irgendwelche Kleinparteien statt etablierter Volksparteien ankreuzen, dann ist die Chance schon größer, dass sich etwas grundlegend verändert. Wenn LINEK und DKP zusammen die 50 % erreichen, muss das Kapital vielleicht wieder zu alten Methoden (Stichwort Chile 1973) greifen. Ich bin der Überzeugung, solange unangepasste Parteien zur Wahl stehen, ist eine Stimmabgabe sinnvoller als Stimmenthaltung. Dabei bin ich mir aber im Klaren, dass wirkliche Veränderung nur in der Selbstorganisation der Ausgebeuteten und Unterdrückten entstehen kann – dazu bedarf es Aufklärung, Aufklärung und Aufklärung. Daran sollte die politische Theorie als Wissenschaft mitwirken!

    PS: Allen, die gegenderte Texte gewöhnt sind, bitte ich um Verständnis, dass ich auf diese sprachliche Verunstaltung verzichte. Wenn ich Arbeiter schreibe, meine ich auch Arbeiterinnen. Emanzipation muss real stattfinden, nicht in der sprachlichen Praxis.

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