Demokratie (Teil I) – Beginn der Debatte

Heute beginnen wir den Lesekreis der AG Politische Theorie in der DNGPS. Es ist Gepflogenheit, bevor in die Tiefen oder Untiefen eines theoretischen Textes bzw. Buches eingestiegen wird, sich zunächst die äußeren Textbedingungen anzusehen. Mit was für einem Text und mit welchen Autoren setzen wir uns in den kommenden Wochen auseinander?

Zum Buch

Wir lesen den kleinen Suhrkamp-Band „Demokratie? Eine Debatte“, in dem acht politische DenkerInnen den Zustand der gegenwärtigen Demokratie aus verschiedenen Blickrichtungen beleuchten. Die taz sprach vom „Who’s who der internationalen linken Theorie“, die sich hier versammelt. Damit und mit dem Titel ist wohl klar, dass zu erwarten ist, dass es sich um kontroverse und zu Diskussionen anregende Beiträge handelt, die wir nun lesen und besprechen wollen. Den acht Autoren wurde eine Frage gestellt, auf die sie antworten sollen: „Hat es für Sie einen Sinn, sich als ‚Demokraten‘ zu bezeichnen? Falls nicht, warum? Und falls ja, gemäß welchem Verständnis des Begriffs?“ Die Antworten, die mehr oder weniger stark aus dem üblichen Diskursrahmen herausfallen, sollen laut Vorwort aber keine Definition oder gar eine Gebrauchsanleitung für eine gute Demokratie liefern. Das Ziel des Bandes ist vielmehr, den Demokratiebegriff aufrechtzuerhalten und als Angelpunkt politischer Kontroversen vital zu halten. Ob man trotz dieses eher bescheidenen Ziels nicht doch mehr, z. B. eine Annäherung an eine Begriffsbestimmung, findet, wäre für mich eine spannende Leitfrage des Lesekreises.

Kurzvorstellung der Autoren

Die ersten beiden Beiträge, um die es heute gehen soll, stammen aus der Feder von Giorgio Agamben und Alain Badiou. Agamben wurde 1942 geboren und lehrt(e) u. a. als Professor für Ästhetik an der Universität Venedig und am Collège International de Philosophie in Paris. Laut Wikipedia ist er einer der meistdiskutierten Philosophen der Gegenwart. Kennzeichnend für sein Selbstverständnis soll sein, dass er sich nicht auf die Rolle als akademischer Philosoph oder Literaturwissenschaftler festlegen lässt. Ähnlich wie eine Hannah Arendt oder auch andere Autoren in diesem Band nimmt er zu Themen der Zeit Stellung, z. B. zu bioethischen Fragen. Er nimmt Bezug auf verschiedenste Autoren, wodurch eine Uneinheitlichkeit in seinem Werk erscheint, die ihm oft zum Vorwurf gemacht wird. Als sein Hauptwerk wird das Buch Homo sacer genannt.

Alain Badiou ist ein 1937 geborener, französischer, kommunistischer Philosoph, der sich als linker Platoniker versteht. Er war Professor und Direktor des Institutes für Philosophie an der École normale supérieure in Paris. Politischen Aktivitäten entfaltete er in der von ihm 1985 mitbegründeten, aus Teilen der Union des communistes de France marxiste-léniniste (UCFML) hervorgegangenen Organisation „politique“, einer Bürgerrechtsorganisation, die sich insbesondere mit Themen wie Einwanderungspolitik, Asylrecht, Arbeit und Gewerkschaften beschäftigt. Aktiv ist Badiou aber auch an der publizistischen „Front“; er hat schon unzählige Bücher, davon viele auch in deutscher Sprache vorliegend, publiziert. Nach Dirk Pilz ist er der Liebling aller Umsturzwilligen und einer der gefährlichsten Gegenwartsphilosophen. Als sein Hauptwerk gilt die Neuübersetzung von Platons „Staat“ (dt.: Platons ›Staat‹. Übersetzt von Heinz Jatho, Diaphanes, Zürich 2013).

Textkommentar zu Agamben

Agamben weist in seinem kurzen einleitenden Beitrag auf die zwei Aspekte hin, die seiner Meinung nach den Begriff Demokratie kennzeichnen: Demokratie sei einerseits eine bestimmte Art Verfassung des Gemeinwesens, andererseits eine Regierungstechnik. Es gehe bei Demokratie also zum einen um eine Form der Legitimation von Macht, zum anderen um eine Form der Ausübung von Macht. Beide Aspekte seien eng verschränkt und kaum zu entwirren. Agamben weist nach, dass diese Doppeldeutigkeit schon bei Aristoteles und Rousseau zu finden ist. Seine abschließende These lautet: Gegenwärtig erleben wir eine „überwältigende[…] Vorherrschaft von Regierung und Ökonomie“ und eine „entleerte Volkssouveränität“ (S. 11). Ursächlicher Fehler der westlichen Demokratien sei, dass sie die Regierung nur als Exekutive betrachtet und die Verbindung der Regierung mit dem Souverän übersieht. Mir bleibt in diesem Text unklar, warum gerade dies das zentrale Problem bzw. Rätsel der Politik ist. In der deutschen Regierungslehre ist die Verbindung von Regierung und Parlament (als Repräsentationsorgan des vorgeblichen Souveräns) in Form der Regierungsmehrheit und des sog. „Neuen Dualismus“ eine Standardfloskel.

Agamben deutet an, dass das Problem der heutigen Demokratie in der Leere der Volkssouveränität (also der fehlenden Souveränität des Volkes) und der unmöglichen Vermittlung zwischen Demokratie als Verfassungsrecht (Theorie) und Demokratie als Regierungspraxis besteht. Will er damit auf den Widerspruch zwischen Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit aufmerksam machen? Diese Diskrepanz ist in Deutschland momentan sehr anschaulich beim ausgehöhlten Asylrecht (Art. 16a GG) oder beim Brief- und Fernmeldegeheimnis (Art. 10 GG) zu erkennen. Letzteres wurde von Edward Snowden als Papiertiger enthüllt; das Internet kann angesichts der „fleißigen“ Geheimdienstaktivitäten kaum noch als Ausdruck bürgerlich-freiheitlicher Demokratie betrachtet werden. Vielleicht meint Agamben aber auch, dass es keine Rückkopplung mehr zwischen Regierenden und Regierten gibt, dass es an Kommunikation zwischen oben und unten mangelt. Die Regierung spricht eine ganz eigene Sprache und kümmert sich um Probleme in einer Weise, die dem einfachen Staatsbürger fremd ist und die er nicht mehr versteht. Welcher „Otto-Normalverbraucher“ kann zum Beispiel ohne Weiteres den Zusammenhang zwischen steigenden Strompreisen/steigender EEG-Umlage und sinkenden Börsenpreisen an den Strombörsen verstehen. Wenn sich die Regierung einer Energiewende und damit der Förderung erneuerbarer Energien verschrieben hat, warum lässt sie es zu, dass immer neue Kohlekraftwerke ans Netz geschaltet werden, alte Atomkraftwerke nicht abgeschaltet werden nicht und zugleich umweltfreundlichere Gaskraftwerke nicht in Betrieb genommen werden können? Politik ist auch ohne ideologische Verwirrungen komplexer geworden, doch es mangelt an der notwendigen Vermittlung, d. h. an Übersetzung und Erklärung der Politik für die Bürger.

Textkommentar zu Badiou

Badiou geht es – wie seine Biografie schon vermuten lässt – etwas radikaler an: Er will sich vom demokratischen Wahrzeichen verabschieden, weil sich sonst das Reale in unserer Gesellschaft nicht begreifen lasse. Er stellt Demokratie als das Unangreifbare in unserer Zeit dar: Man kann Kritik an herrschenden Zuständen äußern, solange man es „im Namen der Demokratie“ (S. 13) tut, also den legitimen/legalen Bereich nicht verlässt. Diese Erfahrung dürften alle überzeugten Kommunisten teilen (siehe Berufsverbote in den 1970er Jahren, KPD-Verbot 1956, Überwachung der Linkspartei durch Verfassungsschutz etc.). Er unterscheidet ganz philosophisch zwischen „aller Welt“ und „der Welt“, wobei er meiner Ansicht nach auf die Differenz zwischen dem, was der Westen für Demokratie hält bzw. ausgibt (was Badiou nicht demokratisch nennt), und dem, was alle Welt Demokratie nennt. Er weist dies an seinem Lieblingsthema, der Migration, nach. Interessant und sehr aktuell finde ich den Einwurf, dass Demokraten nur Demokraten „mögen“ und wer von außen in die Demokratien einwandert, nicht sonderlich demokratisch empfangen wird (Lager, Überwachung, Kriminalisierung, Frontex …; S. 14).

Im Hauptteil geht es ihm um die Frage, was die Bedingungen sind, die ein Land erfüllen muss, um im westlichen Sinne als Demokratie firmieren zu können. Zur Beantwortung dieser Frage greift er auf seinen Referenzphilosophen Platon und dessen Kritik der Demokratie zurück. Platon definiert Demokratie zunächst als Herrschaftsform, also Verfassungstypus, doch ihm wie auch Lenin stellen eher den schädlichen Einfluss auf die einzelnen Menschen als die Institutionen in den Mittelpunkt ihrer Kritik. Die Demokratie fördere eine zerstörerische Ichsucht, „ein Begehren des kleinen Genusses“. Hier wie auch an anderen Stellen blitzt die Kritik an einer hedonistischen Spaßgesellschaft auf, die mit der Herrschaftsform Demokratie verbunden wird. Das finde ich gerade bei einem Autoren, der die Idee des Kommunismus verteidigt, sehr merkwürdig, da ich die Ichsucht eher mit der liberalen Gesellschaftsidee erklären würde als mit dem Verfassungstypus.

Platon habe zwei Thesen entwickelt, welche Badiou teilt: „1. Die demokratische Welt ist nicht wirklich eine Welt. 2. Das demokratische Subjekt konstituiert sich ausschließlich im Sinne des Genusses.“ Zur zweiten These betreibt Badiou Konsumkritik, die Menschen in unseren Demokratien würden zum Genuss erzogen, indem ihnen die Illusion von ständig frei verfügbaren Gütern vermittelt werde. Real sei jeder gleich und somit jeder nichts wert – nur Geld besitze Wert. Die Belege anhand von Platons „Der Staat“ sind für mich schwer verständlich – so ist Platons Aussage, Demokratie sei eine „regierungslose und buntscheckige Verfassung, welche gleichmäßig Gleichen wie Ungleichen eine gewisse Gleichheit austeilt“ (s. 17), für mich schwierig an aktuellen oder empirischen Tatsachen nachzuvollziehen. Eine Regierung ist durchaus vorhanden und wird ja auch gebraucht, wenn man Marx folgt, da sie die Interessen der herrschenden Klasse zu schützen hat. Teilt sie Gleichheit aus? Wenn, dann eine stark beschränkte und zum Großteil illusionäre (Rechts-)Gleichheit. Der Abschnitt mit der Jugend und dem Alter, ich gebe es unumwunden zu, überforderte mich vollends – da hoffe ich auf Aufklärung durch Platon-Experten.

Es scheint jedenfalls darauf hinauszulaufen, dass Badiou mit Platon unsere Gesellschaft auf eine Katastrophe zusteuern sieht, weil sie jugendlich-hedonistischen Motiven hinterherläuft und eine nicht näher definierte „Welt“ abwesend ist. Diese für Badiou disziplinlose Welt, deren Wahrzeichen die Jugend sei, werde sich bald in eine offene Diktatur verwandeln. Er will aber keine Diktatur und schließt seinen Aufsatz mit einem Plädoyer für den Kommunismus als Alternative bzw. Gegenteil der Demokratie, die den „leeren Formalismus der Demokratie […] überwindet“ (S. 22). Diesem Plädoyer kann ich viel gewinnen, wobei ich persönlich den Kommunismus nicht als Gegenteil oder Gegensatz zur Demokratie verstehen würde. Was sich Badiou unter Kommunismus vorstellt, schreibt er hier nicht, da wird man wohl z. B. zu „Die Idee des Kommunismus (Bd. II)“, die er zusammen mit Žižek herausgegeben hat, greifen müssen.

Fazit: Was ist Demokratie?

Nach der Lektüre der beiden Autoren bleiben viele Fragen offen. Klar ist, dass beide Autoren die jetzige, westliche Demokratie heftig attackieren und nach Alternativen suchen. Badious Argumentation war für mich schwer nachvollziehbar und letztendlich kann er zum Klären des Verständnisses von Demokratie nicht viel beitragen. Gut finde ich aber seinen einführenden Ansatz, Demokratie nicht als unantastbare Herrschaftsform zu betrachten, weil nur so ihre Mängel herauszufinden sind. Die Kritik von Agamben, finde ich, liefert mehr Ansatzpunkte zum Diskutieren, da ich seine These der fehlenden Vermittlung von Politik in gegenwärtig en vogue erscheinenden Regierungsstilen gut veranschaulicht sehe. Diese beiden Beiträge lassen jedenfalls so viele Fragen unbeantwortet, dass die Neugier auf die anderen Texte erhalten bleibt.

 

Quellen:

Agamben, Giorgio (2012): Einleitende Bemerkungen zum Begriff der Demokratie, in: Ders. et al (Hrsg.): Demokratie? Eine Debatte. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 9-12.

Badiou, Alain (2012): Das demokratische Wahrzeichen, in: Agamben, Giorgio et al (Hrsg.): Demokratie? Eine Debatte. Frankfurt/M.: Suhrkamp, S. 13-22.

Pilz, Dirk (2013): Und sei es mit Gewalt, Berliner Zeitung. Online unter: http://www.berliner-zeitung.de/kultur/philosoph-alain-badiou-und-sei-es-mit-gewalt,10809150,23104062.html.

Randow, Gero von (2013): „Desaster als Triumph“, Interview mit Alain Badiou, ZEIT Online. Online unter:  http://www.zeit.de/2013/02/Richard-Wagner-Alain-Badiou.

Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Giorgio_Agamben und http://de.wikipedia.org/wiki/Alain_Badiou.

6 Gedanken zu „Demokratie (Teil I) – Beginn der Debatte“

  1. Hallo,

    vielen Dank für den Auftakt und die ausführliche Auseinandersetzung mit beiden Autoren. Ich muss sagen, dass beide Autoren für mich schwer zu verstehen und nicht mehr immer ganz vollziehbar waren. Zudem wurde mir durch beide Autoren vor Augen geführt, wie schlecht ich mich mit antiken Denkern auskenne. Bei der Aristoteles und Platon-Interpretation kann ich also nicht behiflich sein…

    Ich interpretiere Agamben mal sehr frei, indem ich sage, dass er mit seinem Rätsel Recht hat. Es wird zu sehr auf Souveränität und zu wenig auf Regierungstechniken Wert gelegt. Es sollte nicht darum gehen, wie der Souverän repräsentiert wird (ich denke sogar, dass er die Idee von Volk=Souverän ablehnen würde, weil er den Volksbegriff kritisch sieht), sondern wie die Ausgestaltung durch die Regierung aussieht. An der Praxis der Regierung lässt sich, so würde ich Agamben lesen, besser Demokratie verstehen als über eine Wahrung von Volkssouveränität. In gewisser Weise kann ich dir mit der Unterscheidung von Verfassungsnorm und Verfassungsrealität zu stimmen, doch Agamben würde wohl begrifflich auf „Regierung“ fokussieren. Sprich, Verfassungsnorm und Regierungstechnik, um klarer zu machen, dass es nicht ein Begriff mit zwei Ausprägungen ist, sondern etwas wirklich verschiedenes ist. Das fand ich interessant aber noch zu vage formuliert von ihm.

    Bei Badiou hingegen hab ich sehr wenig verstanden und offenbar seine „Pointe“ verpasst. Der Beginn, dass „Demokratie“ so was wie eine heilige Kuh ist, die nicht angetastet werden darf. Dafür aber in ihrem Namen eine nicht-demokratische Praxis gerechtfertigt wird, versteh ich ebenso wie die Unterscheidung aus „demokratischer Welt“ und „Welt“, die er hinterfragt. Aber nach diesen ersten drei Seiten (im Englischen die S. 6-8), muss ich leider sagen, dass mir die Argumentation zumeist unverständlich bleibt. Wie Stefan schon sagt, gibt es wirklich einen „a link between democracy and nihilism“ (im Engl. S. 14), der auf Demokratie zurückzuführen ist oder spricht Badiou nicht vielmehr die enge Verbindung aus Kapitalismus und Demokratie an? Oder würde Badiou sagen, dass das eins ist und er deswegen auch meint, dass der Gegensatz von Demokratie Kommunismus ist? Lässt sich die gegenwärtige Demokratie nicht von Kapitalismus trennen, weil es bestimmte Rechtsprinzipien wie den Schutz des Privateigentums beinhaltet? Heißt das dann, dass „Demokratie“ für Badiou wirklich aufzugeben ist? So klingt es in gewisser Weise auf S. 14 in der englischsprachigen Version.

    Ich bin gespannt, ob der nächste Autor wirklich Fragen beantworten wird. Ich habe da so meine Zweifel, aber möglicherweise ist gerade dies die Intention des Bandes: Statt Antworten zu geben, stellen sie irritierende Fragen 😉

  2. Da niemand weiter sich äußert, will ich nicht länger mit meiner knappen Antwort warten.

    Mit antiken Denkern hatte man es im halleschen Bachelor nicht so, daher werden wir beide wohl da unsere Wissenslücken haben. Ich würde aber auch die steile These wagen, dass uns die antiken Klassiker bei aller Erkenntnis, die sie so mit sich bringen, für die Diskussion moderner Demokratien und deren Weiterentwicklung nicht allzu viel zu sagen haben. (Vielleicht fühlt sich da ein Kenner der antiken Philosophen herausgefordert? 🙂 )
    Deiner Interpreation bezüglich Agamben würde ich folgen, ihm ist Demokratie als Regierungstechnik sehr wichtig. Allerdings kann er bei nur vier Seiten Text, die aber auch nur als Einleitung gedacht sind, bloß vage bleiben. Bei Badiou finde ich den Hinweis, dass Demokratie nicht als unantastbar betrachtet wird, sehr wichtig. Gerade weil fast jeder sich unter Demokratie etwas anderes vorstellt (auch so mancher Diktator bezeichnet sein Regime als Demokratie), muss man da genauer hinschauen. Ich würde auch deine Vermutung bezüglich der Gleichsetzung von Demokratie und Kapitalismus bei Badiou teilen, das Gefühl hatte ich auch. Und ich finde diese Gleichsetzung gerade problematisch, weil sie aus meiner Sicht den Kapitalismus begrifflich aufwertet. Nach meiner groben Demokratie-Vorstellung ist der Kapitalismus im Allgemeinen und die empirisch vorfindbaren Formen von kapitalistischen Gesellschaften keine (vollwertigen) Demokratien. Wie bereits erwähnt, würde ich eher Demokratie und Kommunismus gleichsetzen.
    Dass nicht nur ich mit dem Finden der „Pointe“ von Badiou Schwierigkeiten hatte, beruhigt mich schon etwas 😉

  3. Danke für den tollen Auftaktbeitrag!

    Ich schreibe erstmal nur was zu Agamben, über Badiou muss ich noch grübeln…

    Also zu Agamben:
    Mit ausgefallenden Anmerkungen zu Aristoteles und Co. kann ich (zum Glück) nicht dienen. Aber der Begriff der Regierungspraxis, den Agamben verwendet, ist mir bei Foucault bereits über den Weg gelaufen.
    Ich denke die Zweideutigkeit auf die Agamben hinweisen will ist die zwischen Demokratie als wirklicher Verfassungsform (mit allem, was dazu gehört) und Demokratie als Regierungspraxis. Der Unterschied ist nicht der zwischen der Exekutive (Regierung Merkel hat das und das getan…) und der Gesetzgebung der Legislative (das Parlament hat verabschiedet…) und der eventuellen Nichtübereinstimmung der beiden von einander.
    Agamben bestimmt Demokratie doppelt (und zwar notwendig doppelt) einmal als Verfassung einer Gesellschaft (im weitesten Sinne) und zweitens als ‚Kunst des Regierens‘. Das ist einmal die demokratische Form, oder wie man Demokratie definiert (Wahlen, Parlament, Meinungsfreiheit, Rechtsstaat, etc.) und auf der anderen Seite wie Demokratie als Herrschaft wirklich funktioniert; wie in einer Gesellschaft durch Handeln Einfluss auf das Handeln der Leute genommen wird. Sich diese Praxis der demokratischen Machtausübung anzuschauen (Macht ist für Agamben ganz Foucauldianisch ‚auf Handeln gerichtetes Handeln‘), ist etwas ganz anderes, als sich die Exekutive anzuschauen. Es geht hier eher darum, wie wir durch die demokratische Regierungspraxis selbst handeln, bzw. ganz klassisch gesagt, was für Subjekte wir in der Demokratie sein können. Welches Handeln bringt die Regierungspraxis (also das Regierungshandeln) der Demokratie hervor? Etwas marxistischer könnte man auch sagen (bitte wiedersprechen), es geht nicht um die Staatsform der Demokratie, sondern um die gesellschaftlichen Verhältnisse, die diese Staatsform ebenso auszeichnen wie das Parlament und der Kanzler.
    Beide Seiten der Demokratie, wie Agamben sie bestimmt, teilen sich deshalb nicht in Exekutive und Legislative, sondern eher in eine demokratische Form und eine Regierungspraxis. Agamben sagt ja auch: „Das Mißverständnis, die Regierung lediglich als Exekutive zu begreifen, gehört zu den folgereichsten Fehlern in der Geschichte der westlichen Politik“ (11). Betrachtet man die Exekutive, dann erhält man keineswegs ein vollständiges Bild der Regierungspraxis in der Demokratie. Regierung, so wie ich Agamben verstehe, geht quer über alle Gewalten und lässt sich nicht durch eine Analyse der Staatsform gewinnen, sondern durch eine Analyse der tatsächlichen Regierungspraxis. Hier würde ich euch allen auf jeden Fall zustimmen, dass für Agamben die Regierungspraxis nicht nur zu wenig betrachtet wird, sondern auch wichtiger ist als die Verfassung.

    Würdet ihr Agamben zustimmen? Also zustimmen, dass die Regierungspraxis mehr über die Demokratie verrät als die Verfassungsform? Ich finde es ziemlich interessant zu schauen, was für eine Art von ‚Anleitung‘ oder ‚Führung‘ die Demokratie auszeichnet. Ich würde sagen, auch im Gegensatz zu autoritären Regimen, ist das eine Art von Selbstführung…

    1. Ich habe gerade einen interessanten Artikel von Alain Badiou über den Kommunismus und die Lage der Linken in der gegenwärtigen Krise gefunden: http://www.freitag.de/autoren/der-freitag/was-unsere-feinde-am-meisten-hassen.
      Das bringt uns zwar nicht mit seinen Demokratievorstellungen wesentlich weiter, aber ich fand es trotzdem wert, euch den Link mitzuteilen.
      Deiner Agamben-Interpretation kann ich folgen: Die Unterscheidung von Demokratie als als Verfassung einer Gesellschaft und als ‘Kunst des Regierens’ lässt sich ja daran nachweisbar machen, dass man sich vorstellen kann, dass in einer demokratisch verfassten (!) eine Regierung an die Macht kommt, die in ihrem Regierungsstil/ihrer Regierungstechnik die Normen nicht vollständig oder gar nicht beachtet. Vielleicht ist die Weimarer Republik ein Beispiel dafür: die Verfassung war für ihre Zeit relativ demokratisch, doch die praktische Politik (ab Ende der 1920er Jahre) interpretierte die Verfassung so bzw. nutzte die in der Verfassung gebenen Elemente, um un-/antidemokratisch zu regieren.

      „Regierung, so wie ich Agamben verstehe, geht quer über alle Gewalten und lässt sich nicht durch eine Analyse der Staatsform gewinnen, sondern durch eine Analyse der tatsächlichen Regierungspraxis.“
      Also bei uns in den empirischen Politikwiss.-Seminaren ist oft gesagt worden, dass politische Systeme nicht allein anhand der Verfassungsnorm, sondern vor allem anhand der Verfassungs- (also Regierungs-)wirklichkeit zu bewerten sind. Und das leuchtet eingentlich unmittelbar ein – finde ich.
      Was im Recht vorgeschrieben wird, muss noch lange nicht das Verhalten in der Empirie bestimmen/lenken. Rechtlich ist Mord verboten und mit hohen Freiheitsstrafen belegt, trotzdem gibt es nicht wenige Morde. Du kannst die Frage, ob ein Land/ eine Organisation demokratisch handelt, nicht anhand seiner Verfassungen/Satzungen beantworten, sondern nur über das tatsächlich beobachtbare Handeln. Das macht im Übrigen empirische Politikwissenschaft so schwierig, denn Satzungen sind leicht zugänglich, aber wie willst du das Handeln einer Regierung beobachten (viele Sitzungen finden hinter verschlossenen Türen statt, Protokolle von Kabinettsitzungen oder Sitzungen des Vermittlungsausschuss sind erst Jahre später öffentlich zugänglich)?

Kommentare sind geschlossen.